Es folgt eine genauere Übersicht auf der Basis konkreter Arbeit im Kurs
ZA 2013-T8: Mehrsprachigkeit
18. 2013-02-25: Was versteht man überhaupt unter Mehrsprachigkeit?
- Hier kann man gut von einer Position aus der Diskussion über Anglizismen ausgehen: Kekulé: These: Man sollte beide Sprachen kennen, also seine Muttersprache Deutsch und die Zweitsprache Englisch. Dann gibt es nicht mehr das Problem des falschen Englisch und des Nicht-genügend-Verstehens.
- Erinnert sei auch an Whorf, der (TTSneu, S. 481/482) die These vertrat, dass die Welt am besten versteht, wer möglichst viele Sprachen und ihre Perspektiven auf die Welt kennt.
- Auch der Text von Humboldt (TTSneu, S. 503) betont, dass das Erlernen einer anderen Sprache die „Gewinnung eines neuen Standpunkkts in der bisherigen Weltansicht“ mit sich bringt, verweist aber auch auf den Vorrang der eigenen Sprache, in die man die fremde immer wieder übersetzt.
- Auch unsere Schule ist ja ein Beispiel für intensivierte Mehrsprachigkeit, seitdem sie einen bilingualen Zweig eingerichtet hat, in dem nicht mehr nur einfach eine weitere Sprache gelernt wird (wenn im Englischunterricht ein deutscher Muttersprachler ständig englisch reden soll, ist das schon eine erste Stufe von Mehrsprachigkeit), sondern diese zweite Sprache auch bereits über den Fachunterricht hinaus angewendet wird – in anderen Fächern, als wäre es die eigene Muttersprache.
- Dazu kommt, dass es inzwischen in den Grundschulen selbstverständlich ist, dass die Schüler Englisch lernen – eine Revolution in unserem Bildungssystem, in dem man vor kurzem noch mit der ersten Fremdsprache erst in der weiterführenden Schule begann.
- Ein besonderes Phänomen der letzten Zeit ist natürlich, dass immer mehr Menschen aus fremden Sprachräumen in unser Land gekommen sind und damit automatisch mehr oder weniger zu „Mehrsprachlern“ geworden sind.
- Fazit: Mehrsprachigkeit ist gegeben, wenn ein Sprecher über mehr als nur (s)eine Muttersprache verfügt und sie auch im alltäglichen Leben anwendet.
- Definition: Zum Beispiel Graf, Peter: Frühe Mehrsprachigkeit und Schule. Hueber, München, 1987. Danach ist Zweisprachigkeit die Fähigkeit, „spontan eine zweite Sprache erfolgreich zu gebrauchen, wenn die Handlungssituation es empfiehlt.“
19. Was macht Mehrsprachigkeit denn als Thema überhaupt interessant?
- Wo genau liegen die Vorteile der Mehrsprachigkeit?
- Wo liegen ggf. auch Nachteile und Probleme?
- Wann soll/kann man mit dem Erlernen der Zweitsprache beginnen? Gibt es ein bestimmtes Zeitfenster?
- Kann man zwei Sprachen gleichberechtigt als Muttersprache haben?
- Welche Sprache hat Vorrang und warum? In welcher Sprache träumt man?
- Welche Probleme können auftauchen – es gibt zum Beispiel das Phänomen der Sprachvermischung? (Die Anglizismen scheinen den Sprachpuristen ja auch in diese Richtung zu gehen.)
20. Varianten von Mehrsprachigkeit
- Abhängig vom Alter: Extremsituation: Man lernt eine neue Sprache als Erwachsener – aus beruflichen Gründen oder aus Reiselust – und besucht eine spezielle Sprachschule oder die Volkshochschule.
- Bei Kindern ein Unterschied, ob erst später, zum Beispiel in der Schule und/oder auch beim Umzug in ein anderes Land
- Oder ab der frühesten Kindheit, zum Beispiel, weil die Eltern unterschiedliche Muttersprachen haben.
- Deutsch als Zweitsprache bei Migrantenkindern stellt dabei eine besondere und zunehmende Herausforderung dar (Sprachförderung)
- In der Schulpraxis zeigen sich ganz unterschiedliche Formen: Vom klassischen bilingualen Gymnasium (Pascal-Gymnasium) über bilinguale Zweige und Projekte bis hin „kompensatorisch“ angelegten Unterstützungsmaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund.
- Zwei Extreme: Auf der einen Seite Bemühen, Kindern neben der umständebedingt „falschen“ Sprache die Integration zu erleichtern, zum anderen Zusatzqualifikation für besonders begabte oder engagierte Kinder, die in Zeiten der Globalisierung größere Karrierechancen haben sollen.
21. Vorteile früher Mehrsprachigkeit
- Wer in frühester Kindheit schon mit mehr als einer Sprache aufwächst, der ist mit dem Phänomen, dass Dinge unterschiedlich benannt werden können, schon ganz früh vertraut und kann damit auch bei der dritten Sprache leichter umgehen.
- Zugleich mehr oder weniger unbewusst bereits „philosophische“ Einblicke in das Verhältnis von Welt und Sprache.
22. Mögliche Nachteile und Gefahren bei Mehrsprachigkeit
- Gefahr der Überforderung
- Dementsprechend Verzögerung bei der sprachlichen Entwicklung und Gefahr eines unüberlegten/nicht rational motivierten „Switchens“ zwischen verschiedenen Sprachen. Am Ende wird weder die eine noch die andere Sprache beherrscht.
- Es gibt auch problematische Mischsprachen: Pidgin-Englisch.
23. Ein besonderer Bereich: Mehrsprachigkeit und Literatur
- (Auswertung eines Artikels „Mehrsprachigkeit und Künste“): http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/muk/de4714712.htm
- Der Begriff der Muttersprache muss problematisiert werden, weil er eigentlich der Vorstellung von Bilingualität widerspricht.
- Deshalb spricht die Linguistik heute lieber von Erstsprache.
- Bei entsprechenden Eltern kann ein Kind auch zwei Erstsprachen haben: Erreicht es in beiden Fällen „muttersprachliches“ Niveau spricht der Sprachforscher Harald Weinrich von „koordiniertem Bilingualismus“
- Häufigere Form allerdings die zeitlich und von der Tiefe her verschobene Mehrsprachigkeit (meist: gesteuerter Fremdsprachenerwerb)
- Wenn dazu auch noch Vorbehalte anderer Sprecher kommen, ergeben sich vielfältige Probleme, die Schriftsteller in bsd. Weise spüren.
- Seit den 70er und 80er Jahren gibt es Migrantenliteratur (damals Gastarbeiterliteratur oder Ausländerliteratur). In den letzten Jahrzehnten gibt es zum Teil sogar Dreisprachigkeit: Die eigene Erstsprache, dann Englisch als „lingua franca“ (Verkehrssprache) (in bestimmten Teilen Europas zum Teil auch Russisch) und schließlich noch Deutsch als Sprache des aufnehmenden Landes.
- Etwas vereinfacht wird das Problem, wenn man berücksichtigt, dass auch der Sprecher „einer“ Sprache über Dialekte oder Soziolekte und damit mehrere „Codes“ verfügen kann.
- Jede Sprache ist ein „Polysystem“ (Mario Wandruska Ende der 1970er Jahre: „Eine Sprache ist viele Sprachen!“ In jüngsten Forschungen spricht man sogar von „Quersprachigkeit“.
- Schon Goethe wusste (in Maximen und Reflexionen): „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“
- Hirnforschung hat heute neue Möglichkeiten, das Verhältnis von Denken und Sprechen und damit auch Kreativität besser zu verstehen: Menschen, die früh mehrere Sprachen lernen, bei denen geschieht das nur in einem Hirnbereich, bei späterem Lernen wird das auf mehrere Bereiche verteilt, es bleibt also eine „Fremdsprache“ (eine ganz neue negative Konnotation!)
24. Ein spezieller „deutscher“ Schriftsteller: Adalbert von Chamisso
- Der Dichter Adalbert von Chamisso zeigt, dass es das Phänomen der Mehrsprachigkeit schon lange gibt und dass es für Sprachkünstler eine besondere Herausforderung darstellt.
- 1781 in Frankreich geboren, Flucht vor der Revolution nach Deutschland -> sogar in die preußische Armee; schließt sich den deutschen romantischen Dichtern an; zugleich naturwissenschaftliches Interesse mit Weltreise; 1838 gestorben.
- „Obwohl Französisch Chamissos Muttersprache war, gelang es ihm, in der deutschen Fremdsprache unsterbliche Werke zu schaffen. Am bekanntesten sind sicherlich Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) und das Gedicht Das Riesenspielzeug über die Burg Nideck im Elsass. Dies erklärt, dass der bisher einzige Literaturpreis für deutschsprachige Migrantenliteratur seinen Namen trägt. Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis werden seit 1985 in Deutschland Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache ausgezeichnet.“ (Wikipedia)
- „2012 wurde die Definition des Preises ergänzt. Ausgezeichnet werden herausragende Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von Autoren, die vor dem Hintergrund ihres eigenen Sprach- und Kulturwechsels Aspekte interkultureller Existenz sprachkünstlerisch gestalten. Mit dieser Definitionserweiterung will der Preis der gesellschaftlichen Realität gerecht werden, dass eine stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache spricht. Für die Literatur dieser Autoren ist der Sprach- und Kulturwechsel dennoch thematisch oder stilistisch prägend.“ (http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp)
25. Auswertung der Erfahrungen von Mitschülern mit mehrsprachigem Hintergrund
- Wichtig ist, dass möglichst beide Sprachen durch je einen Elternteil vertreten werden.
- Wirkliche parallele Zweisprachigkeit gibt es in der Praxis wohl nicht – man kann ja auch nur in einer Sprache träumen.
- Interessant war der Hinweis, dass jemand, der primär in einem Land lebt und in dessen Sprache „träumt“ – nach zwei Wochen im anderen Land die Traumsprache wechselt.
26. Probleme einer zu unreflektierten Verwendung des Englischen als Wissenschafts-Verkehrssprache
- Auswertung eines FAZ-Textes eines Anglisten, der sich aber sehr für Zurückhaltung bei der Verwendung nur der englischen Sprache in der Wissenschaft ausspricht:
- Zunächst Bestandsaufnahme:
- Wichtigkeit des Deutschen schwindet in der Welt, Englisch nimmt zu (Weltsprache)
- Gebrauch der englischen Sprache vor allem, um ein größeres Publikum zu erreichen
- sogar bestimmte Schulfächer werden auf Englisch erteilt -> fortschreitender, unumkehrbarer Prozess?
- Er plädiert für: deutsche (Geistes-)Wissenschaftler sollten weiterhin auf Deutsch schreiben -> riskieren sonst Probleme im Tiefgang der Untersuchungen, denn ihre Fachgebiete sind ja stark kulturhistorisch und damit auch sprachlich geprägt – dazu kommt natürlich ein Kompetenzproblem, da die meisten Englisch nicht genauso gut beherrschen wie ihre Muttersprache.
- Sein Vorschlag: Lieber Geld in gute Übersetzungen zu investieren.
- Im NW-Bereich erscheint es eher möglich und sinnvoll, vorwiegend auf Englisch zu veröffentlichen, immerhin gibt es ja ganze Bereiche, in denen gewissermaßen Mathematik die Verkehrssprache ist (Physik).