Georg Büchner, "Lenz": Interpretation des Gesprächs über Kunst
Zur Bedeutung des Gesprächs über Kunst und Literatur in Büchners Novelle "Lenz"
In Büchners Novelle "Lenz" geht es um einen Schriftsteller, der zunehmend unter einer Geisteskrankheit leidet und nur zeitweise Erleichterung durch die Betreuung eines Pfarrers genießt.
Büchner bezieht sich in seinem Werk auf einen real existierenden Schriftsteller: Jakob Michael Reinhold Lenz und auch einen historischen Pfarrer namens Oberlin. Das ist hier aber von untergeordneter Bedeutung, weil in der Literatur nur das Werk mit seiner fiktiv gewollten Welt zählt.
Wenn man eine besonders interessante Stelle sucht, die zugleich viel über das Werk selbst aussagt und auch Diskussionsanreize für unseren heutigen Umgang mit Kunst jedweder Art schafft, dann bietet sich das sogenannte "Kunstgespräch" an, das man im Internet zum Beispiel hier finden kann: http://www.zeno.org/Literatur/M/Büchner,+Georg/Erzählung/Lenz
Wenn man auf der Seite nach "Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal" sucht, hat man den Beginn der entsprechenden Passage. Sie reicht dann bis "Kaufmann ging, Lenz war verstimmt".
Wir stellen die Passage im Folgenden gegliedert vor und erläutern sie dann bis hin zu Anregungen des Umgangs damit.
Hinweise zum Youtube-Video
Zu dieser Seite gibt es auch ein Youtube-Video, das hier zu finden iste:
Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Steintal.
Lenzen war anfangs das Zusammentreffen unangenehm; er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das bisschen Ruhe war ihm so kostbar – und jetzt kam ihm jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden musste, der seine Verhältnisse kannte.
Oberlin wusste von allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt, er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich.
Auch war es allen notwendig, dass er da war; er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde.
Anmerkung: Am wichtigsten ist hier wohl der Hinweis, dass dieser Lenz Ruhe braucht, weg muss von allem, was ihn quälen könnte. Vor diesem Hintergrund wird interessant sein, was der kleine Ausbruch von Gedanken und Empfindungen mit dem kranken Menschen macht.
Lenz gegen einen idealistischen Ansatz in der Literatur
Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete. Die idealistische Periode fing damals an; Kaufmann war ein Anhänger davon,
Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten.
Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen.
Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.
Übrigens begegne es uns nur selten: in Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen;
alles übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen.
Da wollte man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.
Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.
Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel;
er hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und den ›Soldaten‹.
Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muss. Man muss nur Aug und Ohren dafür haben.
Anmerkung: Hier kann man gut herausarbeiten, worum es Lenz geht:
Er wehrt sich gegen die Idealisierung des menschlichen Daseins und der Welt. Das ist aber zunächst einfach eine subjektive Sicht.
Problematisch ist die Vorstellung, die von Gott geschaffene Welt sein vollkommen, man könne ihr nur "nachschaffen". Hier kann man Lenz sicher am leichtesten widersprechen.
Was Lenz' Vorstellung vom Leben angeht, das er möglichst unverfälscht in der Kunst wiedergegeben haben möchte, so übersieht er natürlich vollkommen, dass jede Wahrnehmung der Wirklichkeit subjektiv geprägt ist. Am besten kann man ihn auskontern mit dem Hinweis auf einen Menschen, in den man sich verliebt hat, und den man nach einiger Zeit vielleicht nicht mehr ausstehen kann, obwohl er sich real gar nicht verändert hat. Man macht sich einfach innere Bilder von äußeren Sachen und man muss hier nur an die Ratschläge, positiv zu denken und daraus Kraft zu schöpfen, um Lenz widersprechen zu können.
Positiv aufnehmen kann man sicher Lenz' Forderung, auch einfache Menschen erst mal ernstzunehmen - und das sicher das stärkste Gegenargument gegen eine bestimmte Art von gewolltem, unnatürlichen Idealismus.
Und die Schlussfolgerung, "Aug und Ohr" aufzumachen, kann man sicher voll und ganz unterstreichen.
Wenn man im Unterricht zum Beispiel Goethes "Iphigenie" oder Schillers "Kabale und Liebe" mit Luise als Heldin gelesen hat, kann man sicher kritische Anfragen an einen Idealismus richten, der mehr gewollt ist als realistisch.
Lenz erwähnt eine Alltagserfahrung, die er gern "in Stein" verwandelt hätte.
Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so sorgsam bemüht.
Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon.
Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.
Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen, zwischen den Felsen, war es wieder ein anderes Bild.
Anmerkung: Hier muss man sich fragen, ob Lenz als Beobachter hier Wirklichkeit sieht oder eine eigene subjektive Interpretation in den Eindruck hineinlegt. Auch das könnte man "idealistisch" nennen. Letztlich geht es also um die Frage, welcher Idealismus gemeint ist, ein unnatürlicher, von oben kommender, oder einer, der das Schöne aus den Dingen und besonders den Menschen herausstellt.
Lenz' Sicht der Kunst
Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne gruppieren, lösen sich auf.
Nur eins bleibt: eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert.
Man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann alt und jung herbeirufen und die Buben und Alten darüber radotieren und sich entzücken lassen.
Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen;
das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht.
Anmerkung: Hier hat man den Eindruck, dass Lenz sich selbst auch etwas schönredet. Richtig iste aber der vierte Punkt, das ist wohl der Kern dessen, was Lenz möglicherweise von Goethe und Schiller und deren klassich-idealistischem Ansatz unterscheidet.
Lenz' Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, in der reinen Wirklichkeit gebe es nichts außergewöhnlich Schönes
Kaufmann warf ihm vor, dass er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raffaelische Madonna finden würde.
Was liegt daran, versetzte er; ich muss gestehen, ich fühle mich dabei sehr tot. Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei fühlen, aber ich tue das Beste daran.
Der Dichter und Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so dass ich über seinem Gebild fühle; alles übrige stört mich.
Die holländischen Maler sind mir lieber als die italienischen, sie sind auch die einzigen fasslichen.
Ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten wie das Neue Testament:
das eine ist, ich weiß nicht von wem, Christus und die Jünger von Emmaus. Wenn man so liest, wie die Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in den paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein einförmiger roter Streifen am Horizont, halbfinster auf der Straße; da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brot; da erkennen sie ihn, in einfach-menschlicher Art, und die göttlich-leidenden Züge reden ihnen deutlich, und sie erschrecken, denn es ist finster geworden, und es tritt sie etwas Unbegreifliches an; aber es ist kein gespenstisches Grauen, es ist, wie wenn einem ein geliebter Toter in der Dämmerung in der alten Art entgegenträte: so ist das Bild mit dem einförmigen, bräunlichen Ton darüber, dem trüben stillen Abend.
Dann ein anderes: Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch in der Hand. Es ist sonntäglich aufgeputzt, der Sand gestreut, so heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche gekonnt, und sie verrichtet die Andacht zu Haus; das Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es ist, als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Landschaft die Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallet der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau liest den Text nach.
Anmerkung: Deutlich wird hier, wie viel subjektives Gefühl Lenz in seine Beobachtungen und Interpretationen hineinlegt. Hier kann man kritisch die Frage stellen, inwieweit er den Menschen damit wirklich gerecht wird. Man könnte einfach mal kreativ eine Situation entwerfen, in der ein Schriftsteller wie Lenz ganz viel in einem Menschen sieht, was der selbst aber ganz anders empfindet.
Zusammenfassung und Abschluss des Gesprächs
In der Art sprach er weiter; man horchte auf, es traf vieles. Er war rot geworden über dem Reden, und bald lächelnd, bald ernst schüttelte er die blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen.
Anmerkung: Vielleicht ist der letzte Satz der wichtigste: Lenz lebt in ganz bestimmten Vorstellungen, die ihm gut tun, die aber eben etwas über ihn selbst aussagen, sehr viel weniger über die Wirklichkeit, die er meint authentisch wahrnehmen zu können.
Weiterführende Hinweise
Ein alphabetisches Gesamtregister aller Infos und Materialien gibt es hier