Das Gedicht von Elfriede Gerstl, "Wer ist denn schon" (
zu finden zum Beispiel hier) stellt die Frage nach der Identität, dem "Bei-sich-selbst-Sein" des Menschen.
Aus urheberrechtlichen Gründen präsentieren wir das Gedicht hier nicht, sondern erklären es nur.
Zur äußeren Form:
Gedicht aus acht Zeilen, von denen sechs mit "wer" anfangen und zwei mit "wenn". Ein fester Rhythmus oder ein Reim sind nicht erkennbar.
Der Kern des Gedichtes:
Das Gedicht spielt eigentlich einen einzigen Gedanken durch, nämlich den der Identität, das "Bei-sich-Seins".
Das geschieht in immer neuen Varianten beziehungsweise Erweiterungen.
Der Aufbau des Gedankengangs:
- Das Gedicht beginnt mit der Frage, wer denn schon bei sich sei. Damit ist wohl gemeint: Wer ruht in sich,hat ein klares Verhältnis zu sich selbst und damit auch eine sichere Grundlage. Wie immer macht man sich am besten klar, was das bedeuten könnte, indem man vom Gegensatz ausgeht: Jemand ist nicht bei sich, der eine falsche Rolle spielen muss. So ist es sicher fatal, wenn jemand im Fußball, der sich eher als Verteidiger fühlt, plötzlich Spielmacher sein soll. Gemeint sein kann aber auch, dass jemand viel zu wenig von sich selbst weiß, sich also zu wenig selbst kennt.
- Die nächste Frage bezieht sich dann auf das "zu Hause". Damit ist die Umgebung gemeint, die zu einem in sich ruhenden Individuum gehört. Das kann ein Ort sein, aber eine Gruppe von Menschen, den man sich zugehörig fühlt. Es können auch Ideen sein oder Hobbys.
- Die dritte Frage macht dann das Zugeständnis, dass da jemand bei sich ist - aber das Zuhause macht Probleme. Das läuft darauf hinaus, dass ein Zuhause möglicherweise immer auch fesselnd ist, nicht den ganzen Menschen erfasst, ihm alle Möglichkeiten lässt.
- Die nächste Variante verschärft die Frage dann noch etwas: Jetzt gibt es ein weiteres Zugeständnis: Da ist jemand zu Hause bei sich - und möglicherweise doch nicht bei sich. Auch das geht in die Richtung, dass zum Selbstsein sehr viel mehr gehört als ein fester Raum, eben ein Zuhause. Vielleicht geht es auch darum, dass jemand nicht glauben soll, das Sich-wohl-Fühlen zu Hause wäre wirklich sein ganzes eigentliches Leben.
- Am Ende hat man den Eindruck, dass das Lyrische Ich erschöpft ist, verstummt, angesichts der immer neuen Infragestellung seiner Identität, seines Bei-sich-selbst-Seins.
Das ist auch wohl die Aussage des Gedichtes: Es zeigt, wie schwierig es allein schon ist, überhaupt bei sich zu sein - etwa angesichts der vielen Impulse, die heute von außen kommen, von der Arbeit, der Freizeit, den Freunden, den Medien.
Dann kommt das Problem mit dem Zuhause hinzu. Das wird dann durchaus zugestanden, aber es wird angezweifelt, dass man dabei zugleich bei sich sein kann. Das scheint mehr, größer zu sein.
Überhaupt wird das Zuhause in seiner Bedeutung am Ende sehr in Frage gestellt - man ist zwar "zu haus" "bei sich" - aber nicht wirklich "bei sich".
Man hat also den Eindruck, dass es ein wirkliches "Bei-sich-selbst-Sein" nicht gibt - bzw. es bleibt eine offene Frage, ob es das gibt. Vor allem bedeutet es so unendlich viel, dass man am Ende eher mit dem Suchen aufhört.
Man könnte sich überlegen, ob man das Ende nicht positiver gestalten könnte. Die zwei real vorhandenen Schlusswörter sind wohl zu negativ, von der gleichen Fragehaltung geprägt wie der Anfang - es scheint keinen Fortschritt im Gedicht zu geben.
Wenn unsere Interpretation aber das Gedicht trifft, dann kann man das Ende auch so verstehen, dass da jemand nicht weiterdenkt, er ist möglicherweise zu Hause und hat begriffen, dass er raus muss, vielleicht auch aus seinem quälenden Denken. Aber das ist schon ein kreativer, eigenständiger Umgang mit dem Gedicht.