Neuer Text

Franco Biondi, "Ode an die Fremde"


Franco Biondi, "Ode an die Fremde"

Der Titel: "Ode an die Fremde"
  1. Wenn man sich ein bisschen auskennt, sieht man sofort, dass im Titel eine Anspielung vorgenommen wird und zwar an die "Ode an die Freude", die ja - zumindest in der Instrumentalfassung - immerhin so eine Art Nationalhymne der Europäischen Union darstellt.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Europahymne
  2. Wenn man dann noch hinzuzieht, was eine Ode ist, nämlich ein feierliches Lied, dann hat man bereits bestimmte Erwartungen an den folgenden Text.
  3. Es geht ganz offensichtlich um eine Art Lied, das erstaunlicherweise die Fremde preist, also einen Ort, der zumindest in dieser Formulierung das Gegenstück von Heimat darstellt und damit wohl eher mit Problemen oder zumindest Herausforderungen behaftet ist.
Die ersten beiden Zeilen:
  1. Das Gedicht nimmt dann in den ersten beiden Zeilen auch gleich auf den Titel Bezug, allerdings in unerwarteter Weise, denn offensichtlich geht es nicht um etwas, was auf jeden Fall immer zu preisen ist, sondern um etwas, das ein Klischee darstellt. Darunter versteht man ja eine feste, stark vereinfachende Vorstellung, die sogar mehr oder weniger falsch sein kann.
  2. Beachten sollte man noch zwei weitere Aspekte der ersten beiden Zeilen, nämlich diese allgemeine Charakterisierung unserer Zeit heute, dass sie eben voller Klischees sei. Und zum anderen ist da die direkte Anrede, die eine Atmosphäre von Vertraulichkeit schafft.
Die Zeilen 3-5:
  1. In den Zeilen 3 bis 5 kehrt das Lyrische Ich wieder zu der Position des Titels zurück, indem es von Liebe spricht, seinem Gefühl gegenüber der Fremde.
  2. Die beiden Erklärung dafür sind aber wohl eher ironisch und sicherlich auch traurig gemeint. Denn es gibt wohl kaum einen Menschen, der es liebt, nirgendwo dazu zu gehören.
  3. Noch unwahrscheinlicher ist es, dass jemand auch noch das Ausgeschlossenwerden liebt. Es geht hier wohl eher um eine Art von Ironie bzw. Satire, die auf eine sehr kunstvolle Art und Weise mit dem Wort Klischee umgeht, denn es wird in diesem Falle etwas eindeutig Negatives klischeemäßig zu etwas Positivem gemacht.
Die Zeilen 6-16:
  1. Es folgt dann ein längerer Zeilenblock, in dem eine oder auch mehrere Situationen angesprochen werden, in denen das lyrische ich sich nicht wohl fühlt.
  2. Interessant ist dabei, dass Annäherung als etwas Negatives, vielleicht sogar Bedrohliches empfunden wird.
  3. Und wenn man hypothetisch einfach mal annimmt, dass dieses Lyrische Ich die Perspektive von Migranten einnimmt, dann kann man sich ungefähr vorstellen, was damit gemeint sein könnte. Es ist wie bei behinderten Menschen, die leiden auch darunter, wenn man ihr Behindert-Sein zum Ausgangspunkt einer Annäherung macht, auch wenn die vielleicht gut gemeint ist.
  4. Die zweite unangenehme Situation bestätigt zunächst einmal, dass das Lyrische Ich selbst sich einer Minderheit zugehörig fühlt und ein Problem damit hat, wenn die Mehrheit ihr Denken, Ihre Vorstellungen, ihre Werte als selbstverständlich auch in seinen Bereich ausdehnt.
  5. Es wird noch eine dritte unangenehme Situation angesprochen, die nicht näher ausgeführt wird, die aber erst mal durchaus in einen Bezug gesetzt werden kann zu den zwei Situationen, vorher geschildert worden sind. Sie stellen möglicherweise diese empfindlichsten Stellen da, an denen das Lyrische Ich nicht auf eine bestimmte Art und Weise berührt werden will.
Die Zeilen 17-21:
  1. Im nächsten Zeilenblock gibt das Lyrische Ich eine Begründung für seine vorgebliche Liebe zu einer Fremde, die eindeutig mit negativen Begleiterscheinungen verbunden ist.
  2. Es ist wohl der noch größere Schmerz, den das Lyrische Ich selbst als fremder Mensch in der neuen Umgebung empfindet und der es wiederum in eine Fremde zurück treibt, die es sich dann selbst wie eine Schutzzone erwählt.
  3.  Es ist bezeichnend, dass hier das Bild des Liebhabers gewählt wird und das in einer doppelten Richtung.
    Zum einen ist da wie gesagt diese angebliche Liebe zur Fremde,
    zum anderen aber auch die ausdrücklich angesprochene Eifersucht.
    Letztlich wird damit doch deutlich, dass das Lyrische Ich gerne dazugehören würde, es ihm aber durch die Umstände verwehrt wird.
    So bleibt nur der Rückzug in einen selbst gewählten Ort der Fremde, der aber wohl nicht als Heimat begriffen werden kann. Denn es ist ja ein Ort, den es gezwungenermaßen aufsucht.
  4. Interessant ist dann noch, was an diesem Ort geschieht,
    nämlich zum einen ein Wiegen und das ist wohl hier zu verstehen in dem Sinne,in dem eine Mutter ihr Kind in den Armen hält.
    Und zum anderen geht es eben um das Abgrenzen, was hier wohl zu verstehen ist als ein erzwungener Schutz.
Die Schlusszeile
  1. Am Ende des Gedichtes gibt es eine Art Pointe, die noch einmal deutlich macht, dass all diese Liebhaberei in der selbst gewählten Fremde nur etwas halbes ist und nicht wirklich glücklich macht.
Aussage(n) des Gedichtes, Intentionalität
  1. Insgesamt zeigt dieses Gedicht die Situation eines Menschen, der, wahrscheinlich aufgrund seines Migrationshintergrundes immer wieder Situationen der vielleicht sogar freundlich gemeinten Überwältigung und letztlich doch Ausgrenzung erfährt.
  2. Man kann das Gedicht aber auch auf alle Situationen übertragen, in denen sich jemand allein für sich oder als Angehöriger einer Minderheit ausgegrenzt fühlt. Das hebt dieses Gedicht weit über reine Migrantenliteratur hinaus.
  3. Die besondere Eigentümlichkeit dieses Gedichtes ist, dass es auf überaus gelungene Weise einen besonderen Zwischenzustand beschreibt, zwischen dem Bedürfnis nach Annäherung und Dabeisein einerseits und der Notwendigkeit, sich in einen eigenen Raum zurückzuziehen, andererseits.
  4. Dieser Raum ist dann in einem doppelten Sinne eine Fremde, zum einen für die, von denen das Lyrische Ich sich bedrängt fühlt.
    Zum anderen aber auch für das Lyrische Ich selbst, das eben nicht einfach in eine Heimat zurück fliegen kann, sondern in eine andere, gewissermaßen selbstgemachte und damit auch geschützte Fremde gehen muss.
  5. Konkret kann man sich das vielleicht so vorstellen, dass ein solcher Mensch hier tatsächlich auch möglicherweise den Klischees entspricht, die an ihn herangetragen werden und die er eben notgedrungen akzeptiert und auslebt, ohne dass sie wirklich zu seinem Leben gehören.
    Nach dem Motto: Wenn ihr mich eben so seht, dann bin ich ebenso und bleibe für euch auch so, bin aber eigentlich ganz anders und hoffe, dass ihr das irgendwann merkt.
  6. Was ein bisschen bedauerlich ist, ist das Fehlen einer positiven Perspektive. Nicht einmal der Faktor Zeit wird hier als etwas erwähnt, das Hoffnung auf Besserung gibt.

Neuer Text
Neuer Text

Wer einen schnellen Überblick über weitere Angebote von uns bekommen möchte. Hier gibt es eine alphabetische Übersicht.
http://www.relevantia.de/register-der-websites
Schauen Sie auch nach auf:
www.schnell-durchblicken.de
www.endlich-durchblick.de

Share by: