Macht Schluss mit dem unnötigen Streit um das Thema "Sprachwandel"
Wir präsentieren hier zunächst ein Video mit seiner Dokumentation.
Hier gibt es auch die Dokumentation zum Video:
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Sprachwandel - notwendiger Fortschritt oder gefährlicher Verfall - Wie man unnötige Auseinandersetzungen beendet
Schritt 1: Beginnen wir mit dem Wortbestandteil „Wandel“
Es gibt Auseinandersetzungen, die müssen sein – andere müssen nicht sein. Beim Spachwandel wird meistens nicht unterschieden zwischen der Realität und der Politik.
Ein kluger Professor hat mal darauf hingewiesen: „Sprechen ist immer neu.“ Das heißt, es gibt nur eine Sprache, die real gesprochen wird – die im Wörterbuch und in der Grammatik kann gar nicht aktuell sein. Man nennt das sprachliche „Norm“ – das ist das, was jeden Tag von den Sprechern der Sprache an mündlichen oder auch schriftlichen Texten produziert wird. Und früher hat der Duden genau an der Stelle gearbeitet: Er hat Veränderungen beobachtet – und wenn sie sich durchgesetzt haben, hat er sie in seine neueste Auflage aufgenommen. So einfach ist das.
Halten wir fest: „Sprachwandel“ ist das Natürlichste von der Welt, aber er ist nicht Sache der Regierung und auch nicht Sache des einzelnen Bürgers – sondern Sache der gesamten Sprachgemeinschaft.
Anmerkungen zum Schaubild:- Sprache ist nicht eine Kombination aus Wörterbuch und Grammatik im Schrank, sondern Sprache ist die Summe dessen, was die Sprachgemeinschaft aus den aktuellen Möglichkeiten macht.
- Dazu gehört sowohl die "ordentliche" Verwendung der Sprache entsprechend den aktuell gültigen Regeln - in der Geschäftswelt, in der Schule und überall sonst, wo es "ernst" zugeht.
- Dazu gehört aber auch die mal "falsche", mal "spielerisch neue" Verwendung der vorhandenen Möglichkeiten - beim Schreiben eines Gedichtes, in der Werbung oder im Kabarett - aber auch zu Hause auf dem Sofa oder im Gespräch mit Freunden.
- Dabei gibt es immer wieder Varianten und neue Erfindungen, die von der Sprachgemeinschaft übernommen
werden und damit zur "Norm", zur normalen Nutzung der Sprache werden.
Wer sich auskennt, dem fällt hier natürlich der Begriff der "Konvention" ein, den de Saussure für die Kombination von Wort/Lautfolge und Bedeutung geprägt hat. - Genauso verschwinden natürlich auch sprachliche Formen und Wörter aus dem aktuellen "Sprachschatz".
Schritt 2: Vergessen wir aber auch den ersten Wortbestandteil nicht: „Sprache = Norm“
Diese Norm – nicht als Vorgabe, sondern als aktuelle Selbstverständlichkeit - ist übrigens sehr wichtig für eine Gesellschaft. Denn sie erleichtert die Kommunikation und ermöglicht es, alles, was zum Leben gehört, schnell und möglichst komfortabel zu erledigen. Das merkt man, wenn man jemanden mit einem starken Dialekt am Telefon hat, das wird mühsam. Man merkt es auch, wenn man als Schüler ein Drama von Schiller liest, das entspricht auch nicht mehr der aktuellen Norm und man muss sich mühsam einlesen. Man merkt es auch, wenn junge Menschen die aktuelle Jugendsprache verwenden – als Erwachsener hat man da Schwierigkeiten. Man merkt es auch, wenn Dichter wie der Expressionist August Stramm nach einer ganz eigenen Sprache suchen – meistens in Gedichten. Dann muss man sich viel Mühe geben bei der Suche nach Verstehen. Ganz schlimm wird es, wenn jemand wie in Bichsels Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ für sich einfach mal die Bezeichnungen vertauscht – dann kann man ihn gar nicht mehr verstehen – und er vereinsamt am Ende.
Schritt 3. Plädoyer für ein gutes Verhältnis der beiden BestandteileHalten wir also fest und gehen dabei von den beiden Wortbestandteilen von „Sprachwandel“ aus. Der Wandel gehört zur Sprache natürlich dazu, aber es muss Sprache bleiben, also ein Stand von Wörtern und grammatischen Regeln, die nur an wenigen Stellen in Frage gestellt und damit weiterentwickelt werden – wenn es sinnvoll ist und die Sprachgemeinschaft es zunehmend einsieht und übernimmt.
Schritt 4. Dazu gehört auch „Pflege“
Der Streit kann also gar nicht um das Prinzip gehen – das ist in seinen beiden Bestandteilen ziemlich klar, wie wir gesehen haben. Der Streit kann nur darum gehen, wie man mit Abweichungen umgeht – das heißt überall dort, wo man „Sprachpflege“ betreibt. Denn das ist die dritte Säule. Früher hat das der Duden ziemlich eigenverantwortlich gemacht, mit den Folgen der von oben verordneten Rechtschreibreform kämpfen wir noch heute – glücklicherweise überlassen die Reformer der Sprachgemeinschaft anscheinend wieder die weitere Entwicklung. Die Schule hat hier eine wichtige Aufgabe – außerdem die Medien. Sie sorgen dafür, dass die Menschen im Beruf eine brauchbare Sprache vorfinden, die die Kommunikation möglichst optimal ermöglicht.
Dazu mal ein Beispiel aus dem Bereich der vielgeschmähten "Anglizismen":
- Ein Begriff wie "Blackout" stellt zum Beispiel eine wirkliche Bereicherung der deutschen Sprache dar. In ihr gibt es nämlich keinen Begriff, der Phänomene wie "allgemeinen Stromausfall" und "eine kurzzeitige Funktionsunsicherheit im Gehirn" in gleicher Weise bezeichnen kann. Wer englisch kann, der durchschaut auch den wunderbaren Bauplan des Wortes: Es wird schwarz bzw. dunkel - und man ist anschließend "out".
- Ganz anders sieht es mit dem "Sale" aus, das man fast zu jeder Jahreszeit auf Schaufensterflächen groß vorfindet. Eigentlich könnte man auch sagen "Schlussverkauf" oder "Preisreduzierung", aber das klingt gar nicht gut. Wer ein bisschen Ahnung hat, der hört sogar "Schluss" und "Verkauf" ganz anders. Und auch bei der "Preisreduzierung" liest man vielleicht vor allem "Reduzierung" - un das klingt negativ.
Das Sale dagegen klingt viel schöner: Man versteht nur: "Hier bekomme ich schöne Dinge für weniger Geld". Man denkt aber nicht daran, dass es entweder bedeutet: "Leider haben wir uns verkalkuliert und sind unsere Sachen nicht los geworden - aber wenn wir beide Abstriche machen, wir beim Preis und Sie bei den Erwartungen, dann könnte doch noch was draus werden."
Es könnte sogar heißen: "Wir haben speziell für Sie und ähnliche Leute Waren produziert, die nicht nur billig im Preis sind, sondern auch billig in der Qualität. Aber für Sie reicht es vielleicht noch."
Langer Rede kurzer Sinn: Das Wort "sale" ist für Nicht-Englischsprechende völlig nichtssagend bis auf den oben genannten Punkt. Aber es "macht Sinn" (auch ein versteckter Anglizismus!), darüber nachzudenken - vielleicht lässt man das mit dem Kaufen und gönnt sich lieber einen Kaffee in der Sonne.
Schritt 5. Für ein gutes Verhältnis von sprachlicher Standardsprachen-Norm und Varietäten-SpielwieseDaneben kann und darf es die besonders Fortschrittlichen geben, die Werbeleute, die Dichter und alle anderen Liebhaber von Sprachexperimenten, die jungen Menschen mit ihrer Jugendsprache usw. Aber die hier beliebten Grenzüberschreitungen machen nur so lange Sinn, wie es eben die Grenzen der gemeinsamen Standardsprache als Basis gibt. Und die entwickelt sich von selbst weiter – aber bitte ohne Eingriffe von oben und ohne revolutionäre Attacken von unten. Denn auch in der Sprache ist einer Gesellschaft am meisten mit Veränderungen gedient, die gut überlegt sind, in der Praxis auch funktionieren und in eine neue Norm hineinwachsen. Und das bedeutet vor allem: Lasst der Sprache und den Sprechern Zeit – und behaltet im Auge, dass es auch eine Generationenfrage ist: Niemand verabschiedet sich gerne von dem, was er gelernt hat – aber man muss sich wie in vielen anderen Fällen auch an Neues gewöhnen.
Die politische bzw. praktische Dimension des Sprachwandels
Nachdem wir geklärt haben, worüber sich das Streiten beim Sprachwandel gar nicht lohnt, haben wir am Ende ja auch schon Konsequenzen für den politischen Raum abgeleitet.
Immer da, wo Politik die Grundphänomene der Wirklichkeit nicht akzeptiert, wird es gefährlich, weil am Ende die Wirklichkeit immer stärker ist - es können nur bis dahin ziemliche Kosten für all die Irrtümer und Irrläufer aufgelaufen sein.
Man denke nur an die Rückkehr vom G8-Gymnasium zum G9-Gymnasium. Auch damals hat man anscheinend nicht genügend über die Wirklichkeit eines Schülerlebens nachgedacht - und jetzt möchte keiner der Verantwortlichen über die entstandenen Probleme reden, sondern betreibt mehr oder weniger fröhlich ein Zurück-auf-Los.
Das sollte man im Bereich der Sprache unbedingt vermeiden, die Rechtschreibreform hat schon genug Chaos angerichtet.
Aber es gibt natürlich auch Bereiche der Sprachentwicklung, über die sinnvoll gestritten werden kann.
Zum Schaubild:
Drei Kräfte müssen sinnvoll ausgeglichen bzw. harmonisiert werden:
- Da ist zunächst einmal die Wirklichkeit der Sprache - über ihre Gesetzmäßigkeiten haben wir weiter oben gesprochen. Entscheidend ist, dass Sprache letztlich am besten von unten her, d.h. von der Sprachgemeinschaft her entwickelt wird. Allerdings darf es hier natürlich Klärungen und Empehlungen geben. Zum Beispiel sollte man bei der Unterscheidung zwischen "scheinbar" und "anscheinend" bleiben. Im ersten Fall geht es nämlich darum, dass etwas nur so aussieht, aber nicht so ist. Im zweiten Falle ist es so, dass man den Eindruck hat, sich aber noch nicht sicher ist. Im ersten Fall ist die Lüge schon da, im zweiten Fall hat man einen Schritt in Richtung mögliche Wahrheit getan.
- Dann gibt es natürlich vielfältige Wünsche: Von der reinen Bequemlichkeit her (muss ich mir so eine Unterscheidung merken) bis hin zu dem Interesse, dass bei allen sprachlichen Integrationsbemühungen auch Rücksicht auf die Migrantensprachen genommen werden sollte. Ob das nur finanziell außerhalb der Schule gefördert wird oder zu einem Teil des Unterrichts wird, darüber kann man trefflich streiten. Womit wir auch schon bei den Notwendigkeiten sind.
- Wünsche können nämlich nur so weit erfüllt werden, solange wichtige Ziele nicht in Gefahr geraten:
- Zum Beispiel muss die Hauptsprache in einem Land auf einem hohen Niveau beherrscht werden, damit man sie entsprechend nutzen kann.
- Dann hat Sprache immer auch Bedeutung für die Kultur - zum Beispiel sollte man wissen, warum im Deutschen etwas "Sinn hat", man im Englischen aber es "Sinn machen lässt". Dazu gehört aber auch zum Beispiel, dass das "Waldsterben", aber auch die "Auftragstaktik" im Deutschen kulturelle Besonderheiten deutlich werden lassen. Dementsprechend werden solche Begriffe auch zum Beispiel ins Englische übernommen.
Überhaupt sollte man das leidige Anglizismen-Problem eher in der Richtung diskutieren, dass man nach den Gründen für die Aufnahme englischer Wörter ins Deutsche fragt. Man wird dann häufig feststellen, dass es durchaus "Sinn macht" von einem "Worst-case-Szenario" oder einem "Blackout" zu sprechen. Auch das Wort "Girl" hat eine etwas andere Denotation als das deutsche Wort "Mädchen". Hier können sich Sprachen wirklich wechselseitig bereichern.
- Wichtig ist auch, dass das Verständnis älterer Sprachstufen gesichert bleibt - dazu gehört auch das Verständnis etwa der Sprache des Philosophen Kant oder Goethes.
- Verständlich ist aber auch, dass man sich in einem Einwanderungsland wie Deutschland für Sprache und Kultur der Migranten interessiert. Allerdings dürfen die Ziele in Richtung Hauptsprache nicht in Gefahr geraten. Vieles wird in der Schule ein Zeitproblem sein.
- Was den bilingualen Unterricht angeht, sollte überlegt werden, ob es wirklich sinnvoll ist, deutsche Quellen im Geschichtsunterricht erst mal ins Englische zu übersetzen, statt lieber in den Geschichtsunterricht englische Quellen und Historikerurteile in der Originalsprache einzubauen.
- Es gibt hier sicher noch viel mehr Streitthemen, sie sollten nur weniger ideologisch diskutiert werden.
- Was die Grammatik angeht, kann sicher über Änderungen nachgedacht werden, die die deutsche Sprache vereinfachen. Das Abschleifen der Endungen läuft ja schon. Auf Dauer wird man "Können Sie mal Herr Meier herausrufen" an der Tür des Lehrerzimmers akzeptieren müssen. Vielleicht wird man eines Tages sogar noch weiter gehen und zum Beispiel die verschiedenen Genera und die entsprechenden Artikel vereinheitlichen. Man spricht dann von "de Kaffee", "de Speise" und "de Gasthaus". Aber das darf nicht von oben verordnet werden - es muss sich in der Praxis bewähren und kann allenfalls über einen langen Zeitraum eingeführt werden.
Fazit: Weg mit der Aufregung - hin zu der praktischen Prüfung und zur Geduld im Hinblick auf das, was die Sprachgemeinschaft auf Dauer akzeptiert - und da hat die jeweils junge Generation die Nase vorn, denn es gibt kein in Stein gemeißeltes Wörterbuch und kaum keine entsprechende Grammatik. Weil "Sprechen immer neu" ist, muss in diesem Bereich alles tatsächlich immer wieder neu "verhandelt" werden.