Wolfgang, Borchert, "Die Kirschen" - personales Erzählen (auch im Video)
In einer mp3-Datei stellen wir eine Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert vor, die erstaunlicherweise nicht so bekannt ist wie "Das Brot" - und eigentlich viel aktueller. Denn sie setzt nicht die Kenntnis der Not nach dem Zweiten Weltkrieg voraus, sondern könnte genauso in unserer heutigen Zeit spielen.
Es geht nämlich um vorschnelle Verdächtigungen und die traurige Peinlichkeit, wenn dann die Wahrheit entdeckt wird.
Sehr gut gemacht ist der dramatische Aufbau, der lange offenlässt, was wirklich geschehen ist.
Ebenso überzeugt die Darstellung der Entstehung von falschen Vorstellungen, aus denen man nicht mehr rechtzeitig herauskommt.
Ein bisschen gekünstelt ist die ständige Wiederholung der Bezeichnung des Kindes als "Der Kranke". Das erscheint unnötig.
Erzählweise und Leserlenkung in der Kurzgeschichte
Die Kirschen
Nebenan klirrte ein Glas.
Erzählerbericht, der aber schon deutlich personal (Erzähler schlüpft in die Figur) angelegt ist, wenn man den folgenden Inneren Monolog hinzunimmt.
Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber.
Innerer Monolog
Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft.
Erzähler tritt aus der Figur heraus, betrachtet sie von außen und beschreibt, was er sieht.
"Sein Vater" und die Konzentration auf "die ganze Hand voll Kirschsaft" nähern den Erzähler wieder der Figurenperspektive an.
Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll.
Überleitung zur personalen Wiedergabe der Gedanken.
Kirschen. Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze. Hand voll Kirschsaft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt Für das Fieber. Und er isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber.
Innerer Monolog
Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf.
Erzählerbericht, der zum Vater überleitet.
Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett.
Wörtliche Rede des Vaters als Teil des Erzählerberichts
Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen.
Wörtliche Rede des Jungen mit eingeschobenem perspektivischen Erzählerbericht. ("Er sah auf die Hand".)
Du musst sofort zu Bett, Junge.
Wiederaufnahme der Anweisungsrede des Vaters
Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand.
Erzählerbericht mit Überleitung zur Jungen-Perspektive
Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen.
Beginn eines Statements des Jungen, eher Selbstgespräch
Waren sie kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schön kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind.
Angriffsrede des Jungen mit impliziter Beschuldigung des Vaters
Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch.
Erzählerbericht über den Vater mit abschließendem Statement in wörtlicher Rede
Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja?
Erzählerbericht über den kranken Jungen, endet in einem Mittelding zwischen Selbstgespräch und vorwurfsvoll gemeinter Äußerung.
Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder. Dann bring ich dich zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett.
Erklärungsversuch des Vaters in direkter Rede
Der Kranke sah auf die Hand.
Hier wird am Erzählerbericht deutlich, worauf der Junge sich konzentriert. Er nimmt das auf, was der Vater gesagt hat.
Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab. Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich schimpft sie nicht. Sie mochte gerade diese Tasse so gern. Jetzt hab ich sie kaputt gemacht. Ausgerechnet diese Tasse, die sie so gern mochte. Ich wollte sie ausspülen, da bin ich ausgerutscht. Ich wollte sie nur ein bisschen kalt ausspülen und deine Kirschen da hinein tun. Aus dem Glas trinkt es sich so schlecht im Bett. Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich ganz schlecht im Bett.
Ausführliche Erklärung des Vaters, was er da gemacht hat.
Der Kranke sah auf die Hand. Die Kirschen, flüsterte er, meine Kirschen?
Erzählerbericht über die Reaktion des Jungen - Kombination aus Verletzung des Vaters und seinem Anliegen - möglicherweise als Annäherung gedacht und eingebracht.
Der Vater versuchte noch einmal, hochzukommen. Die bring ich dir gleich, sagte er. Gleich, Junge. Geh schnell zu Bett mit deinem Fieber. Ich bring sie dir gleich. Sie stehen noch vorm Fenster, damit sie schön kalt sind. Ich bring sie dir sofort.
Der Vater sagt noch einmal, was er für den Jungen tun will.
Der Kranke schob sich an der Wand zurück zu seinem Bett. Als der Vater mit den Kirschen kam, hatte er den Kopf tief unter die Decke gesteckt.
Erzählerbericht mit einem Hinweis, der vom Leser verstanden werden kann als ein Sich-Schämen wegen des falschen Verdachts.
Die Geschichte kann man natürlich sehr gut mit "Das Brot" vergleichen.
Zum Video, in dem das personale Erzählen in der Kurzgeschichte erklärt wird ...
Personales Erzählen – ganz einfach erkennen und beschreiben: Beispiel „Die Kirschen“ (Borchert) ---
Personales Erzählen abzugrenzen vom auktorialen oder vom neutralen macht Schülern meist große Schwierigkeiten. Wir zeigen, wie man nur die grundsätzliche Unterscheidung verstanden haben muss, um damit in der Praxis ziemlich gut arbeiten zu können. Und wenn es mal Schwierigkeiten gibt, dann liegen sie beim Text – denn Autoren machen sich in der Regel keine Gedanken über die Erzählhaltung – sie erzählen so, wie es dem Inhalt und der Intention entspricht.
In besserer Qualität präsentieren sich diese Bilder in der pdf-Datei, die weiter unten heruntergeladen werden kann. Uns kam es hier vor allem auf den roten Pfeil an. Denn neben Erzählhaltung ist die Leserlenkung in erzählenden Texten ein ganz wichtiges Mittel.