Friederich Karl Freiherr von Moser
Der Adler an der Kette
Ein prächtiger Steinadler war in die Schlingen eines Jägers geraten und wurde mit großem Hallo in den Palast des Sultans gebracht. Der ganze Hof bewunderte die Kühnheit seines Blicks, die Schärfe seine Schnabels und den Umfang seiner Schwingen. Nur ein junger Sklave namens Mehmet, flehte um Entlassung und Freiheit des gefangenen Helden, aber vergeblich. Osman, der keine Lust hatte, immer nur Sklaven um sich zu haben, hatte es sich schon lange gewünscht, diesen König der Lüfte zu seinen Füßen zu sehen. Der Adler bekam alles, was er an Nahrung brauchte - und das in goldenen Schüsseln. Zwei Sklaven, darunter der junge Mehmet waren für seine Versorgung zuständig. Aber er bekam auch eine Kette an einen Fuß, an deren Ende eine schwere Eisenkugel hing. Vergeblich versuchte er immer wieder, trotz dieser Last aufzusteigen – aber es war alles vergebens. Täglich besuchte der Sultan sein kostbares Tier, kümmerte sich aber weiter nicht darum. Schließlich hörte der Adler auf zu fressen und auch aus der silbernen Schale mit Wasser trank er kaum noch. Eines Tages betrat der junge Mehmet den Raum und wollte das Wasser erneuern. Da sah er den Adler, wie er den Blick nach draußen richtetet und zur aufgehenden Sonne sprach: „Gib mir Flügel, die mich hinaustragen in die Weite – ich will hier in diesem engen Raum nicht weiter leben.“ Den jungen Sklaven rührte das sehr und er beschloss, dem Adler zu helfen: Leise sprach er ihn an: „Du sollst sie haben, die Freiheit, die ich mir selbst nicht geben kann.“ Dann löste er die Kugel von der Kette. Als der Adler ihn erwartungsvoll ansah, fügte er noch hinzu: „Flieg, so schnell und so weit du kannst. Die Kette lass ich an deinem Bein, als Andenken, dass du am Hof eines Sultans gewesen bist.
(auf der Basis eines Fabelbuches aus dem Jahre 1786, in heutiges Deutsch übersetzt)