Neuer Text

Rilke, "Herbst1902"

Rainer Maria Rilke, "Herbst 1902"

Rainer Maria Rilke

Herbst (1902)

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.



Anmerkungen zum Gedicht:
  1. Das Gedicht stammt aus der Zeit um die Jahrhundertwende (1902), also noch ein knappes Jahrzehnt, bevor der Expressionismus übermächtig wurde. Von daher ist es interessant, auf Unterschiede zu den Merkmalen dieser Epoche zu achten.
  2. Es beginnt mit einem Naturphänomen, das für den Herbst charakteristisch ist.
  3. Allerdings wird es dann in einem Vergleich auf eine andere Ebene gehoben, nämlich die des Himmels und seiner Gärten. Damit soll wohl deutlich gemacht werden, um was für ein übermächtiges Geschehen es sich handelt. Das klingt schon ein bisschen nach Expressionismus, der ja auch versucht, innere (übermächtige) Gefühle mit Mitteln der äußeren Welt zu beschreiben, die andere Menschen nicht immer leicht nachvollziehen können.
  4. Hinzukommt dann noch ein zweiter Versuch, dem Phänomen gerecht zu werden: Diesmal wird der Fall der Blätter mit einer Geste gleichgesetzt, bei der jemand abwinkt, Nein sagt. Das lyrische Ich versteht also das Fallen der Blätter als eine große, deutliche Absage an das Leben.
  5. In der zweiten Strophe geht es dann ähnlich überhöht weiter - diesmal, indem die Erde "aus allen Sternen in die Einsamkeit" fällt. Auch das ist schwer nachvollziehbar, deutet aber an, dass die Erde an Bedeutung verliert, ja möglicherweise sogar im Nichts verschwindet. Auch dieser totale Ansatz hat schon was Expressionistisches.
  6. Die dritte Strophe zeigt dann Züge des Existenzialismus, also eines tiefen Gefühls auch der menschlichen Endlichkeit. Das hat schon was von "Weltuntergang", aber eben auf der Ebene der Menschen.
  7. Die letzte Strophe setzt dann einen deutlichen Gegenakzent: Plötzlich wird all dem Verfall, dem Untergang, dem Tod "Einer" entgegengesetzt, der sogar dieses "Fallen" "in seinen Händen hält". Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er das Fallen aufhält - dagegen sprechen Herbst und Tod als unabwendbare Phänomene des Lebens. Aber es gibt eben eine übergeordnete Macht, in der all das aufgehoben bleibt.
  8. Manch einer wird an dieser Stelle gleich an so etwas wie den Gott des Christentums denken. Hier lohnt es sich, sich mit dem Leben und den Auffassungen des Autors zu beschäftigen, wie es zum Beispiel auf dieser Seite geschieht.
    https://www.deutschlandfunk.de/rainer-maria-rilke-das-musst-du-wissen-dass-dich-gott.886.de.html?dram:article_id=320773
    Dort wird deutlich gemacht, dass Rilke spezifische Glaubenslehren des Christentums skeptisch sah, Dogmen sogar ablehnte, dennoch aber aus diesem Glauben etwas schöpfte, was ihn diesen positiv klingenden Schluss schreiben ließ.
Share by: