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Gertrud Kolmar, "Die Fahrende"


Gertrud Kolmar, "Die Fahrende" - ein Bild des Lebens am Beispiel des Unterwegsseins

Gertrud Kolmars Gedicht "Die Fahrende" ist nicht gleich auf den ersten Blick überall verständlich - wir zeigen, wie man die Textsignale zu einer Aussage bündeln kann. Insgesamt ein Gedicht, das  am Beispiel der Idee des Fahrens die Veränderungen im Laufe des Lebens zeigt.
Gertrud Kolmar
 
Die Fahrende

 
01 Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
02 Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
03 Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
04 Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
05 Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.
  • Die erste Strophe kann verstanden werden als Ausdruck großen Selbstbewusstseins.
  • In den ersten beiden Verszeilen ist das ganz klar, vor allem in der Formulierung am Ende.
  • In der dritten Zeile ist es auf den ersten Blick ein bisschen schwieriger, aber im Zusammenhang mit dem Rest der ersten Strophe ist dann auch klar, dass alles sich auf das lyrische Ich konzentriert und dann in Harmonie endet.
 
06 Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
07 Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
08 Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
09 Drin die Erdkugel mit geröteten Backen,
10 Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.
  • Während die erste Strophe bei allem Positiven doch letztlich das Statische beim lyrischen Ich betont, denkt es in der zweiten Strophe darüber nach, wie es selbst in Bewegung kommen könnte.
  • Die ersten drei Zeilen verarbeiten dabei das Bild eines typischen Wanderers aus früheren Zeiten, der sich den Kopf zum Schutz gegen die Sonne mit einem Tuch bedeckt.
  • In den letzten beiden Zeilen kommt dann wieder die Haltung der ersten Strophe durch, jetzt sogar bezogen auf die gesamte Erdkugel, die sich gewissermaßen freut beziehungsweise schon ganz aufgeregt ist bei dem Gedanken, mit dem lyrischen Ich zusammen aufzubrechen.
  • Die letzte Zeile entspringt wohl einer Vorliebe des lyrischen Ichs für eine bestimmte Art von Äpfeln und bezieht es in seine Aufbruchsfantasie mit ein.
 
11 Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
12 Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
13 Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
14 Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
15 Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.
  • In der dritten Strophe verändert sich dann plötzlich die Atmosphäre, wenn von eisernen Gittern die Rede ist, die offensichtlich auf das lyrische Ich warten. Man denkt hier sofort in seine Art Gefängnis.
  • Die zweite Zeile passt gut dazu und verstärkt den Eindruck des Bedrohtseins.
  • Die Zeile 13 ist dann wieder sehr auslegungsbedürftig. Am nächstliegenden ist wohl die Vorstellung, dass der angedachte Ausbruch aus der Statik in die Ferne doch wieder zurückgebogen wird und in den festen Rahmen des Gewöhnlichen zurückkehrt. Dieser Rahmen korrespondiert natürlich mit der Vorstellung vom festen Haus oder sogar einem Gefängnis.
  • Die letzten zwei Zahlen bedeuten dann, dass das lyrische Ich sich mit Sehnsucht und Wünschen begnügen muss. Auf jeden Fall gibt es nur eine Art inneren Reisebericht, der nicht festgemacht werden kann an realen Erfahrungen. Man hat den Eindruck, dass letztlich der Durst bleiben wird.
 
16 Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
17 In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
18 Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
19 Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
20 Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.
  • So bleibt das lyrische Ich am Ende auch nackt und kämpfend und kann wohl nur in der Fantasie "tiefe Seen" durchpflügen (das Bild wird am ehesten verständlich, wenn man es mit Wendungen im Hinblick auf Schiffe versteht, deren Kiele oder Steven die Wogen schon seit langem "durchpflügen").
  • Die zweite Zeile kann man dann wie eine Kurzfassung ersten Strophe verstehen, entlastet von allem Stürmenden und Drängenden.
  •  Es folgt ein Ausblick auf den Zeitpunkt, an dem es weniger um vorwärtsdrängen geht, denn um Sichtung des Vorhandenen und eine zögernde Rückkehr. Wichtig ist, dass hier von "heimgehen" die Rede ist, was nicht auf Resignation hindeutet, sondern auf den natürlichen Abschluss einer Reise.
  • Den Schluss bildet die Einordnung in große Zusammenhänge in der Haltung maximaler Bescheidenheit.  Offensichtlich akzeptiert das lyrische Ich, dass es am Ende nichts ist als eine Art Vorläufer der Menschen, die nach ihm kommen und das gleiche erleben werden.
Aussage / Intention
  • Insgesamt macht das Gedicht den Bogen deutlich von dem grandiosen Selbstbewusstsein des Anfangs über ein wachsendes Gefahrenbewusstsein bis hin zu einem harmonischen Ausgleich mit sich selbst, verbunden mit der Anerkennung der großen Zusammenhänge, In die man selbst als winziger Bestandteil eingeordnet ist beziehungsweise – wie in diesem Gedicht – sich einordnen kann.
  • Am Ende sollte man noch mal über den Titel des Gedichtes nachdenken, er scheint zumindest auf den ersten Blick nicht ganz befriedigend zu sein. Denn es geht hier eher um Ausfahrt mit Heimkehr als um einen zielgerichteten und fortschreitenden Prozess.
Anregung:
Es lohnt sich vielleicht, dies Gedicht mit Eichendorffs "Sehnsucht" zu vergleichen, denn auch dort geschieht, was das "Fahren" angeht, mehr in der Fantasie als in der Wirklichkeit.

Erste Ansätze eines Vergleichs der beiden Gedichte:
  • Bei Kolmar gleich am Anfang ein Sturm und Drang der Außenwelt, die zum Lyrischen Ich hin drängt und dort "lächelnd" empfangen wird.
    Auch bei Eichendorff gibt es ein Warten, das bezieht sich aber auf die, die wirklich aufgebrochen sind.
  • Die zweite Strophe links entspricht ziemlich den Zeilen 07 und 08 des Eichendorff-Gedichts, malen dieses Gefühl des Es-könnte-so-schön-sein stärker aus.
  • Die dritte Strophe links bringt dann einen düsteren Ton ins Gedicht, der rechts völlig fehlt.
  • Hinzu kommt in der Schlussstrophe links ein grandioses Abschlussbild der reflektierten Selbstbegrenzung, während das Eichendorff-Gedicht nur irgendwie "verschlafen" ausklingt.
  • Letztlich haben wir links eine Art Lebensprogramm, während rechts nur ein Moment geschildert wird. Beiden gemeinsam bleibt aber, dass mehr in der Fantasie stattfindet als in der Realität.
Und noch eine Anregung:
Die Zeilen 11-15 links könnte man auch in Beziehung setzen zu Tiecks Gedicht "Sehnsucht", in dem es aber nur lapidar heißt:
"Schnell muss alles untersinken,
Rückwärts hält mich die Gewalt. –"

Näheres dazu findet sich hier:
https://www.schnell-durchblicken2.de/unt-tieck-sehnsucht

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