Neuer Text

Huchel, "Chausseen" - 1963 Expressionismus?


Peter Huchel, "Chausseen" - 1963: ein Gedicht im Stil des Expressionismus?

Jeder Schüler des Oberstufenunterrichts im Fach Deutsch weiß, dass der Expressionismus als Epoche spätestens Mitte der 20er Jahre des 20. Jhdts. zu Ende gegangen ist.
Was sagt man aber dann, wenn ein Dichter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1963 ein Gedicht veröffentlicht, das ganz dem Inhalt und dem Stil der alten Epoche verpflichtet zu sein scheint.
Wir nähern uns dem Gedicht bewusst "induktiv", gehen also nicht von äußeren Voraussetzungen aus, sondern lassen es für sich selbst sprechen. Das hat nichts mit irgendeinem Interpretationskonzept des "Immanenten" zu tun, sondern nimmt Literatur als das ernst, was es erst mal ist: ein nur sich selbst präsentierendes künstlerisches Etwas, das man an und für sich selbst ernst nimmt, bevor man es in größere äußere Zusammenhänge stellt, auch den zum Beispiel der Werkbiografie des Dichters.

  1. Schon die erste Zeile bezieht sich auf eine scheinbar romantische Abendstimmung ("Abendröte"), die durch das Attribut "erwürgte" aber ins absolut Negative verkehrt wird, mit einer Andeutung von Gewalt.
  2. Die zweite Zeile "stürzender Zeit" stellt dann die "Abendröte" noch in einen weiteren, größeren Zusammenhang und erinnert an die apokalyptische Seite der "Weltende"- Vorstellungen des Expressionismus.
  3. Mit der Wiederholung des Titelwortes in der 3. Zeile taucht ein Kernbegriff moderner Betriebsamkeit und Naturferne auf, was genauso in den Expressionismus passt wie die "Kreuzwege der Flucht" in Zeile 4. Schließlich ging es für viele Dichter der Zeit damals ja um den Ausbruch aus einer als falsch empfundenen Welt.
  4. Die zweite Hälfte der acht Zeilen der ersten Strophe präsentieren dann ein komplettes Vernichtungsszenario, das bezeichnenderweise in die Natur, genauer: in die bearbeitete Natur ("Acker") platziert wird, was wiederum eine Infragestellung der menschlichen Zivilisationsbemühungen bedeutet.
  5. Der Beginn der zweiten Strophe passt dann dazu, weil Elemente wie "Lungen voller Rauch" und "Atem der Fliehenden" sowie "Schüsse" auf eine Atmosphäre des Krieges hindeuten. Wenn von "zerbrochenem Tor" die Rede ist, bedeutet das wieder ein Signal in Richtung Zerstörung von Zivilisation.
  6. Die letzten beiden Zeilen erinnern an Georg Heyms Gedicht "Der Gott der Stadt", nur dass ich diesmal nicht die triumphierende Geste am Schluss steht, sondern ein Feuer, das "mürrisch das Dunkel kaute". Das bedeutet ja nichts anderes als Unzufriedenheit mit einem vorläufigen Ende der Zerstörung, weil einfach alles bereits zu "Asche" geworden ist.
  7. Die dritte Strophe bringt dann die Menschen ins Blickfeld, wobei der wie eine Überschrift wirkende Begriff in der ersten Zeile ("Tote") deutlich macht, dass es hier um das Ende zumindest eines Teils der Menschheit geht.
  8. Die zweite Zeile zeigt, dass keine Rücksicht auf so etwas die Menschenwürde genommen wird. Das Attribut vor "Schrei" passt zur ersten Zeile, weil noch einmal das Motiv des Würgens aufgenommen wird.
  9. Die letzten drei Zeilen zeigen wieder ein sehr beeindruckendes Bild allgemeiner Vernichtung, diesmal leicht euphemistisch, wenn die Arbeit der Schmeißfliegen als "summendes Tuch" gesehen wird, dass angeblich die Wunden schließt.

  10. Insgesamt zeigt das Gedicht von Huchel
    1. so viele Motive und Vorstellungen aus der Zeit des Expressionismus, dass es problemlos dieser Zeit zugeordnet werden könnte.
    2. Es gibt kein Element in dem Gedicht, das zu dieser Zeit überhaupt nicht passt.
    3. Damit ist zunächst einmal klar, dass ein Gedicht, dass immerhin knapp 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht worden ist, durchaus noch in Inhalt und Sprache einer früheren Epoche zugetan sein kann.

  11. Künstlerische Mittel
    1. Auffallend ist gleich der extreme Gegensatz in der ersten Zeile.
    2. Die Wiederholung des Titelwortes, die die Allgegenwart dieser "Chausseen" deutlich macht.
    3. das Motiv des Feuers, das die Gewalt unterstreicht
    4. das Motiv des Würgens bzw. Erstickens
    5. der Euphemismus am Schluss, wenn die Aasfresser als Wundenschließer präsentiert werden.
    6. und anderes mehr...

  12. Fragen über das Gedicht hinaus
    1. Wir haben hier bewusst alle externen Infos ausgeklammert und uns nur mit dem Gedicht selbst beschäftigt. Das erscheint uns auch eine für Literatur primäre Herangehensweise und für die Schule sehr wichtig - denn Schüler sollen erst mal einen eigenen Zugang zu literarischen Texten, gewissermaßen auf Augenhöhe bekommen.
    2. Darüber hinausgehende Fragestellungen sind letztlich literaturgeschichtlich bzw. "germanistisch".
    3. In diesem Falle ist es sicher interessant zu klären, wann der 1903 geborene Autor angefangen hat, sich für Literatur zu interessieren. Hat er 1923 bei Beginn seines Studiums der Literaturwissenschaft noch viel mitbekommen von einer Literaturrichtung, die gerade vorbei war?
    4. Hat er sich später mit ihr beschäftigt?
    5. Spannend ist sicher auch die Frage, ob 1963 beim Erscheinen dieses Gedichtes und des gleichnamigen Lyrikbandes schon Leser die Nähe zum Expressionismus festgestellt haben.

Neuer Text
Neuer Text

Wer einen schnellen Überblick über weitere Angebote von uns bekommen möchte. Hier gibt es eine alphabetische Übersicht.
http://www.relevantia.de/register-der-websites
Schauen Sie auch nach auf:
www.schnell-durchblicken.de
www.endlich-durchblick.de

Share by: