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Kurzgeschichte: Speed-Dating mit Gedichten


Hajo Frerich, "Speed-Dating mit Gedichten" - oder die Frage: Wie bekämpft man am besten eine Abneigung gegen Gedichte?

Die folgende Geschichte ist von einem Deutschlehrer geschrieben worden, der immer wieder mit der Unlust von Schülern gegenüber Gedichten konfrontiert wurde. Irgendwann kam er auf die Idee, dass man auch mit solchen Texten eine Art "Speed-Dating" veranstalten kann. Und so etwas präsentiert ein kluger Pädagoge am besten nicht von oben herab, sondern lässt eine fiktive Geschichte für sich und die Sache sprechen.

Man kann die Geschichte sehr gut im Zusammenhang mit dem Thema "Kommunikation in Kurzgeschichten" besprechen.

Zunächst der Text und mögliche Aufgaben, darunter dann eine Druckfassung.
Hajo Frerich

Speed-Dating mit Gedichten


Als die neue Deutschlehrerin zum ersten Mal den Kursraum betrat, war Tom beeindruckt. Sie machte einen sehr dynamischen und zugleich freundlichen Eindruck. Sie nannten solche Lehrkräfte „Overwhelmis“, weil sie Gefühle erzeugen zwischen „überrollt“ und „überwältigt“ sein.
Jedenfall vergaß man schon schon nach kurzer Zeit, dass man in der Schule war. Natürlich hielt das nicht lange an und das hing mit den vorgeschriebenen Themen zusammen. Erst hörte keiner so richtig zu – aber als es dann hieß: „Dann fangen wir doch am besten mit Gedichten an“, gab es ein allgemeines  Aufstöhnen. Tom nutzte das, um die Sache gleich auf den Punkt zu bringen: „Wie Sie vermutlich mitbekommen haben, sind die meisten Leute im Kurs von dem Thema nicht begeistert. Mein Vater würde vielleicht sogar sagen: typisches Trauma.“ Frau Bergmann – so hatte sie sich am Anfang vorgestellt – verlor das verständnisvolle Lächeln und fragte irritiert: „Was hat das mit deinem Vater zu tun?“
„Nun, er ist Psychiater und lernt ständig Leute kennen, die ein Schockerlebnis nicht verarbeiten konnten.“
Das Lächeln kehrte zurück – Frau Bergmann war wieder voll auf dem Gleis: „Und was haben Gedichte mit Schock-Erfahrung zu tun?“
Jetzt kam Ben seinem Freund zu Hilfe: „Naja, man weiß, bei den Klausuren geht es um Noten zwischen eins und sechs und wenn man dann so ein Gedicht bekommt, mit dem man nichts anfangen kann, dann kann man auch gleich abgeben.“
Jetzt war auch Chris endgültig aufgewacht: „Das ist genau der Punkt: Wenn ich auf der Straße jemandem begegne, der unverständliches Zeug von sich gibt, dann  sehe ich zu, dass ich verschwinde. Bei Gedichten muss ich mich aber mit jedem Unsinn auseinandersetzen.“
Alle warteten jetzt auf eine heftige Reaktion der Lehrerin. Aber es kam ganz anders: „Da hast du etwas Richtiges gesagt. Gedichte haben im Unterschied zu Sachtexten erst mal keinen Sinn. Den musst du als Leser herstellen.“
Chris war mit der Antwort noch nicht zufrieden: „Und wenn es schief geht, bekomme ich eine sechs?“ „Ja, sorry, nein“ Man merkte, dass Lehrkräfte solch eine Note eher aus einer Couch-Position aus sehen. „Was ich sagen wollte: Das ist das Grundproblem des Deutschunterrichts, dass man viel zu sehr auf richtig oder falsch setzt. Streng genommen gibt es das bei Literatur aber gar nicht oder sollte es zumindest in der Schule nicht geben.“
Jetzt reichte es Yana. Sie mochte solche uferlosen Diskussionen überhaupt nicht, sondern wollte lieber ihre Sachen abarbeiten und dann war’s gut: „Dann können wir doch jetzt gehen? Wenn sowas wie Gedichte im Unterricht nichts zu suchen hat.“
Frau Bergmann bemühte sich um Schadensbegrenzung: „Doch, Gedichte haben schon etwas im Deutschunterricht zu suchen, aber man geht häufig falsch ran.“
„Was ist denn das Falsche?“ Das musste man Yana lassen, sie blieb dran.
„Nun, dass man Gedichte wie eine Rechenaufgabe betrachtet, bei der ganz bestimmte Wege eingehalten werden müssen und am Ende muss letztlich ein richtiges Ergebnis rauskommen.
„Und was können wir hier anders machen?“ Es war still im Kurs – alle warteten auf irgendetwas wie Erlösung.
„O, man lässt sich erst mal auf den Text ein und schaut, was er mit einem macht. Im Privatleben kann man dann erfreut weiterlesen oder ihn beiseitelegen. Die Schule ist aber gerade dafür da, solche Reaktionen zu überprüfen, damit man sich und sein Verhältnis zum Text besser versteht. Wer immer nur bei seinem ersten Eindruck bleibt, dem entgeht viel im Leben. Nicht immer gibt es Liebe auf den ersten Blick. Viele Leute haben sich sogar über ihren späteren Partner erst geärgert – aber das war eigentlich schon ein Zeichen von Interesse.“

Denkt doch einfach mal an die Beziehungen, die ihr so kennt. Hat es da immer beim ersten Mal gefunkt? Mehr Chancen hat eine Beziehung doch auf jeden Fall, wenn man nach dem ersten Eindruck noch genauer hinschaut, vielleicht auch mit einem guten Freund darüber redet.“
Überall gab es jetzt erstaunte Gesichter. „Sollen wir uns jetzt in Gedichte verlieben?“
„Nein, aber ihr sollt ihnen eine Chance geben. Also gewissermaßen Speed-Dating mit Nachspiel.
Natürlich war es jetzt Yana wieder, die zu ihrem „Und gut is!“ kommen wollte: „Also dann: Warum machen wir das bei Gedichten nicht wie beim Speed-Dating?“ Kurz drauf gucken und dann schauen, ob sich das Nachspiel lohnt.
Es gab eine kurze Pause, dann hatte Frau Bergmann anscheinend die Idee verarbeitet: „Das ist wirklich eine tolle Idee. So machen wir das. Ich bringe nächste Stunde für jeden von euch ein Gedicht mit und ihr lest es eurem Gegenüber dann vor und versucht, darüber ins Gespräch zu kommen. Hinterher überlegen wir gemeinsam, bei welchen Gedichten sich ein ‚Nachspiel‘ – ein wirklich passendes Wort – lohnt.“
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr fügte Frau Bergmann noch hinzu: „Ach und noch eines: Natürlich kann mir jeder ein Gedicht, das er interessant findet, in mein Fach legen lassen. Dann habe ich weniger Arbeit und ihr könnt euch hinterher nicht über die Auswahl beschweren.“
Den Schlusspunkt setzte Sophie, die sich immer erst meldete, wenn es um Kreativität ging. „Dürfen wir auch selbst geschriebene Gedichte mitbringen?“
Jetzt lief Frau Bergmann zu Höchstform auf – wenn sie Schüler einbeziehen konnte, kannte ihre Begeisterung anscheinend keine Grenzen: „Du hast mich auf einen guten Gedanken gebracht. Ich werde dein Gedicht wie alle anderen in Druckform präsentieren und bei allen Gedichten den Verfasser weglassen. Dann wollen wir doch mal sehen, ob dein Gedicht nicht vielleicht hinterher zu den auserwählten gehört.“
Das letzte, was die Lehrerin vor dem Rausgehen sah, war das Strahlen in den Augen von Sophie.

Aufgaben:
1.    Gibt nach der Vorstellung des Textes einen Überblick über den Inhalt.
2.    Wie könnte man sein Thema als Problemstellung oder Frage formulieren?
3.    Untersuche, wie die beteiligten Personen in dieser Geschichte miteinander umgehen. Berücksichtigte dabei auch an mindestens zwei Stellen die Seiten des sogenannten Kommunikationsquadrates von Schulz von Thun.
4.    Prüfe, inwieweit man die Axiome 1, 3 und 5 von Watzlawick auf die Geschichte anwenden kann.
5.    Was zeigt die Geschichte insgesamt. Bemühe dich hier um eine differenzierte Antwort, bei der du mindestens drei Teilantworten gibst.
6.     Zeige an den Begriffen „Couch-Position“ und „Nachspiel“, wie inhaltliche Elemente mit sprachlichen Mitteln unterstützt werden.
7.    Prüfe abschließend, inwieweit die Kennzeichen einer Kurzgeschichte auf diese Geschichte zutreffen.

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