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Klüssendorf, "Ficken"


Angelika Klüssendorf, „Ficken“ - oder Varianten der Täuschung


Überblick über die Handlung

  1. In der Geschichte geht es um ein junges Mädchen, das im Kreis seiner Freunde zunächst immer für einen Jungen gehalten worden ist, jetzt aber anders wahrgenommen wird.
  2. Es verschwindet mit dem bewunderten Tarek, was den Ich-Erzähler dazu bringt, den beiden nachzugehen.
  3. Er entdeckt sie einfach nebeneinander sitzend, Tarek aber erklärt, sie würden – siehe den Titel – ficken. Damit macht er sich über die Erwartungen seines Freundes lustig.
  4. Im zweiten Teil der Kurzgeschichte ist der Ich-Erzähler Polizist geworden und begegnet dem Mädchen von damals als Frau, die eine Vergewaltigung anzeigen will.
  5. Es stellt sich heraus, dass sie entgegen ihren Angaben zum Zeitpunkt der angeblichen Tat betrunken gewesen ist und außerdem noch Jungfrau ist.
  6. Als ihr das vorgehalten wird, verschwindet die Frau einfach, der Ich-Erzähler aber bekommt „Heimweh nach all den kleinen, wahrhaftigen Lügen“ seiner Jugend.
  7. Während die offensiv vorgetragene Lüge in der ersten Episode noch als Provokation erkennbar ist, bleibt im zweiten Fall offen, warum die junge Frau die Vergewaltigung vortäuscht.
  8. Es ist durchaus möglich, dass sie in einer Art Kurzschlusspanik zumindest auf diese sehr problematische Weise versucht, nachzuweisen, dass sie begehrenswert ist.
  9. Das würde bedeuten, dass in beiden Fällen ein sexuelles Image erreicht werden soll – nur eben einmal auf kindlich spielerische und nicht ernstgemeinte Weise – im anderen Falle auf dem traurigen Wege der Selbst- und Fremdtäuschung.
  10. Insgesamt eine Geschichte, die über den Titel auch den Leser täuscht, am ehesten im Sinne der ersten Episode.
Zu finden ist die Geschichte u.a. in:

Überlegungen zur Erzähltechnik

  1. Was die Erzähltechnik angeht, so ist diese Geschichte vor allem interessant, weil es zwei zeitlich von einander entfernte Episoden gibt: Der Ich-Erzähler präsentiert die gesamte Geschichte und bezieht sich dabei auf zwei Zeitstufen seines Lebens.
  2. Hier kann man gut den Unterschied zeigen zwischen "sich erinnerndem" Erzählen, das in der Gegenwart des Ich-Erzählers abläuft. Dem steht das "erinnerte" Erzählen gegenüber, in dem das Ich zum "erlebenden" (nicht mehr nur "erzählenden") Ich wird.
    • Am deutlichsten wird das am Schluss der Geschichte:
      "Ich musste an Tadek denken, an all die Mädchen, die er mit in die Heide genommen hatte. Ich fühlte noch einmal die Hitze und den Stillstand der Sommer, ich sah ihre Augen vor mir, sah das Meer in seinen besten Stunden, hörte Tadek noch einmal antworten: Wir ficken, ja, wir ficken,"
      Das ist vor allem das "erinnerte Erzählen", bei dem der Ich-Erzähler sich noch einmal in die Situation von damals hineinversetzt, als er "erlebender" Erzähler war.
    • "und ich bekam Heimweh nach all den kleinen, wahrhaftigen Lügen, nach den Mädchen und den Jungen, nach den Freunden von damals, nach mir."
      Dies ist stärker das "erinnernde" Erzählen, bei dem deutlich wird, dass sich die Zeiten verändert haben, man selbst auch - und nun die Dinge aus einer ganz anderen Position heraus betrachtet.
    • In der Wirklichkeit des Erzählens vermischen sich natürlich die beiden Arten des Erzählens - es lohnt sich aber, nach den Stellen zu suchen, in denen die eine oder die andere dominiert.
Zu finden ist die Geschichte u.a. in:

Was man  mit dieser Geschichte "anfangen" kann

  1. Grundsätzlich erscheint es uns sehr wichtig, Literatur nicht in erster Linie unter "germanistischen" Gesichtspunkten zu besprechen, auch wenn das leider im Deutschunterricht zum Teil eine zu große (verordnete) Rolle spielt.
  2. Literatur ist primär für die Leser da, für die ganz individuellen Betrachtungen, aber auch für das Gespräch.
  3. Dabei taucht zum Beispiel die Frage auf, wie es überhaupt so mit der Erinnerung ist. Jeder hat schon mal erlebt, dass die Erinnerung an etwas durchaus ganz anders aussehen kann als das tatsächliche Fühlen, Denken  und Handeln zum erzählten Zeitpunkt.
  4. Das merkt man, wenn Leute, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort eigentlich das Gleiche wahrgenommen haben müssten, darüber berichten. Richter wissen bei Zeugen davon ein Lied zu singen. Da unterscheiden sich zum Teil sogar die Farbangaben etwa zu einem Auto.
  5. Beim Erzählen kommt noch hinzu, dass man hier gar nicht in gleicher Weise unter dem Zwang der Wahrheit steht. Wenn jemand zum Beispiel von Reise-Erlebnissen spricht, haben die Zuhörer in der Regel kein Problem damit, dass das Erzählte mehr spannend als wahr ist.
    Bei länger zurückliegenden Episoden ist der Erzähler ja schon rein biologisch, aber vor allem auch psychisch bzw. mentral mehr der Gleiche wie früher.
    Dementsprechend verändern sich Akzentuierungen und Färbungen.
  6. Was den Inhalt der Geschichte angeht, so kann die zweite Episode zum Anlass genommen werden, beim bedrückenden und sehr ernsten Thema "Vergewaltigung" auch den sehr speziellen Aspekt anzusprechen, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen in Einzelfällen auch vorgetäuscht werden kann.
Zu finden ist die Geschichte u.a. in:

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