Zunächst die Lösung der Aufgabe der letzten Lektion:
An deiner Schule hat die vorgesetzte Behörde verfügt, dass auch Oberstufenschüler in ausfallenden Stunden nicht nur zusätzliche Aufgaben zu lösen haben, sondern diese sind auch noch im Klassenraum zu bearbeiten, wobei mindestens am Anfang und am Ende der Stunde die Anwesenheit von einem Lehrer kontrolliert wird.
Du bist als Schüler mit 5 anderen Schülern Mitglied der Schulkonferenz und hast dich bereit erklärt, zu dem Punkt eine Erklärung abzugeben.
1. Welche „Momente“ der Situation spielen eine Rolle und sind von dir zu berücksichtigen?
· Es handelt sich um einen offiziellen Rahmen mit einem hohen Maß an Öffentlichkeit.
· Vor allem sind sehr unterschiedliche Personengruppen und damit auch Rollen vorhanden: Dass Eltern dabei sind, die man persönlich kennt, ist eher unwahrscheinlich, wohl aber sind sicher Lehrer anwesend, die man selbst im Unterricht hat. Heikel dürfte vor allem auch die Gruppe der Mitschüler sein, womit wir schon bei den Erwartungen sind.
2. Welche Erwartungen haben die verschiedenen Teilnehmer der Sitzung an dich (Mitschüler, Eltern, Lehrer, Schulleiter)?
· Die Mitschüler erwarten sicher eine sehr kämpferische Rede, die Frust und Empörung auslöst und möglichst viel bewirkt – ganz gleich, ob mit sachlichen Mitteln oder eher rhetorischen Tricks.
· Lehrer und Schulleiter erwarten sicher Interessenvertretung, aber eine, die mit Sachargumenten operiert und Verständnis zeigt.
· Die Eltern sind unter Umständen unentschlossen und können auf die eigene Seite gezogen werden, aber sicher nicht mit demonstrativer Faulheit (Wir wollen Freistunden!), sondern mit Sachargumenten (Wir sollen zur Selbständigkeit erzogen werden!)
3. Welche Intentionalität (Absicht) könnte deine Rede haben?
· Ein wichtiges Ziel ist, eine Mehrheit für die eigene Meinung zu bekommen.
· Es geht aber auch darum, Frust und Empörung zumindest ansatzweise (eher im ersten Teil) deutlich werden zu lassen.
· Entscheidend ist, dass man gute Lösungen anbietet, die auf einer Kompromisslinie liegen.
4. Mit welchen Hauptmitteln (s.o.) könntest du versuchen, dein Ziel zu erreichen?
· Damit sind wir auch schon bei den Mitteln: Diese Rede sollte im Anfangsbereich möglichst überraschen: „Wir als Schüler haben sicher nichts dagegen, dass wir auch ohne Lehrer lernen!“ Damit weckt man nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Sympathie und sammelt Stimmen.
· Im zweiten Teil könnte sie dann eher Empörung zeigen, weil die Schulobrigkeit so wenig Verständnis für das wirklich Wichtige zeigt. Hier schadet auch ein bisschen Pathos und vielleicht etwas satirische Übertreibung nicht. So viel Unterhaltung darf sein.
· Im nächsten Teil dann sollte man Verständnis zeigen, dass man die Beschlüsse der Obrigkeit nicht einfach wegwissen kann (da wird sich der Schulleiter freuen!).
· Am Ende sollten konstruktive Vorschläge stehen, die allen Beteiligten weiterhelfen.
· Am Ende schadet es nicht, wenn man ein bisschen rhetorische Geschicklichkeit zeigt und zum Beispiel zum Anfangspunkt zurückkehrt und deutlich macht, dass die eigenen Vorschläge am besten mithelfen, dass auch in früheren Freistunden am meisten herauskommt, ohne Schüler zu sehr in ihren Möglichkeiten zu beschränken.
Der Kontext und seine MomenteHeben wir den entscheidenden Punkt noch einmal heraus: Gerade weil Reden nicht einfach so gehalten werden, sondern eine ganz bestimmte Funktion haben, ist es von entscheidender Bedeutung, sich noch vor der eigentlichen Beschäftigung mit dem Text die Situation klarzumachen, in der die Rede gehalten wurde. Dabei muss man unbedingt den Fehler vermeiden, einfach zu notieren, was denn da alles so passiert war bis zu der Rede. Vielmehr kommt es darauf an, die „Momente“, also die Dinge, die etwas bewegen, bestimmen, hervorrufen, herauszuarbeiten.
An einem Beispiel wollen wir es im Folgenden klarzumachen versuchen: Zu einer Rundfunkansprache, die Adolf Hitler am 30.01.1945 an die deutsche Bevölkerung gerichtet hat, wird in einem Lesebuch die folgende „Kurzinformation zum situativen Kontext“ gegeben:
Anfang 1945 waren die westlichen Alliierten bis zum Rhein vorgestoßen, im Osten standen die sowjetischen Truppen an der Oder, zunehmend bekam die Zivilbevölkerung die Folgen der alliierten Bombardements (Zerstörung, Tod, Hunger, Versorgungsengpässe) zu spüren. Immer deutlicher wurde, dass der Zusammenbruch unabwendbar bevorstand.
Seit den ersten militärischen Misserfolgen 1942 hatte Hitler nur noch selten öffentlich gesprochen und wenn, dann wählte er meistens das Medium der Rundfunkansprache. Die folgende Rede hielt Hitler von der Reichskanzlei in Berlin aus über den Rundfunk am 30. Januar 1945, dem Jahrestag seiner "Machtergreifung". Es war seine letzte Ansprache an das deutsche Volk.
Wenn man daraus jetzt die „Momente“ der Situation ableiten will, könnte man Folgendes hervorheben, wobei sich eine Gliederung nach drei Gesichtspunkten anbietet:
1. Das Land: Deutschland und seine Bevölkerung stehen in mehrfacher Hinsicht unter Druck:
· zum einen durch den Vorstoß der feindlichen Truppen im Westen wie im Osten, d.h. das eigene Land wird zunehmend eingeschnürt.
· Dazu kommen die Bombardements, die besonders auch die Zivilbevölkerung betreffen.
· Fazit: drohende Niederlage
2. Der Redner: Hitler hat schon seit längerer Zeit nicht mehr viel Kontakt zu seinem Volk, das erschwert natürlich diese Rede, weil er u.U. gar nicht mehr genau weiß, wie die Menschen denken und fühlen.
3. Der Anlass: Es geht um den 12. Jahrestag des größten Sieges der Nationalsozialisten, damit auch automatisch um eine Art Bilanz: Was ist in dieser Zeit erreicht worden? Inwieweit sind Hoffnungen enttäuscht worden.
Die Erwartungen an die Rede/Möglichkeiten des Redners
Wenn man das geklärt hat, was die Umstände der Rede prägt und bestimmt, dann sollte man sich Gedanken machen, was von der Rede zu erwarten ist. Wichtig ist, dass man das tut, ohne schon in die Rede hineinzuschauen, denn nur dann bleiben alle Möglichkeiten im Blick. Sobald man die Rede gelesen hat, weiß man ja schon, welche Möglichkeit der Redner gewählt hat und denkt nicht mehr an Alternativen (andere Möglichkeiten).
Bei den Erwartungen gibt es zwei Ebenen: Zum einen sollte man die Menschen denken, die die Rede direkt hören, darüber hinaus gibt es natürlich auch die Erwartungen, die wir an die Rede haben, und wir kennen schon den weiteren Verlauf der Geschichte, haben außerdem ein sehr viel distanzierteres Verhältnis zum Redner, sollen ja analysieren und uns z.B. nicht erbauen lassen.
Im Einzelnen kann man die Erwartungen sehr eng an die schon aufgeführten „Momente“ des Kontextes binden: Dabei könnte sich in diesem Falle Folgendes ergeben:
1. Rein theoretisch wäre eine ehrliche, offene Rede Hitlers angesichts der drohenden Niederlage möglich – mit der Bereitschaft, Frieden zu schließen: Wer aber Hitler ein wenig genauer kennt (und das galt für die Zeitgenossen!), der rechnete bei diesem Fanatiker nicht damit. Wer dann noch den weiteren Verlauf der Geschichte kennt (und das sind wir Analysierer!), der hat noch einen zusätzlichen Grund, diese Möglichkeit auszuschließen.
2. Bleibt als nächstes die Möglichkeit, Fehler zuzugeben oder auf Sündenböcke zu verweisen und nach deren Beseitigung den erneuten Aufschwung im Kriege zu versprechen – Fehler hat Hitler aber eigentlich nie zugegeben, zu Sündenböcken könnten zum Beispiel die Menschen des Widerstands gemacht werden.
3. Hitler könnte aber auch versuchen, die Wirklichkeit zu verschleiern oder zu beschönigen, dabei kämen ihm Hinweise auf irgendwelche Wunderwaffen oder Ähnliches sehr gelegen. Die spielten ja tatsächlich in seinem Denken längere Zeit eine große Rolle.
4. Bleibt schließlich noch die Möglichkeit, dem Volk einen grandiosen Untergang anzukündigen – so wie bei den Nibelungen in der mittelalterlichen Sage. Aber das ist eine sehr gefährliche Sache, weil viele Deutsche durchaus noch an Hitler glaubten, aber sich wohl kaum für den Untergang begeistern ließen – ganz im Gegenteil zu Hitler selbst.
Günstig ist natürlich, am Schluss noch eine Bewertung der verschiedenen Möglichkeiten vorzunehmen und sich für eine wahrscheinliche zu entscheiden. In diesem Falle dürfte es wohl eine Kombination aus 2 und 3 sein, die am wahrscheinlichsten ist: Wenn man erst die inneren Feinde endgültig besiegt und wieder ganz geschlossen ist – und wenn dann noch möglicherweise neue Wunderwaffen greifen, dann ...
Ein Aspekt, der noch hinzukommt, ist der Anlass: Hitler könnte darauf verweisen, dass man 1933 ja auch gegen alle Widerstände und nach vielen Niederlagen doch noch den Sieg errungen hat, das ließe sich gut auf die aktuelle Situation übertragen, auch wenn es illusorisch ist, weil jetzt keine kraftlose und ungeliebte Republik ihm entgegensteht, sondern zunehmend siegreiche Alliierte mit ungeheuren militärischen Ressourcen.
Mögliche Aufgaben:
1. Im Lesebuch findest du eine Rede von Otto Wels, zu der die folgenden Kontextinformationen gegeben werden. Arbeite daraus die Momente heraus, die für eine Analyse von Bedeutung sind.
2. Kläre in einem zweiten Schritt die Erwartungen, die sich an den Redner richten.
Informationen zur Rede von Otto Wels am 23.3.1933 vor dem deutschen Reichstag:
Am 30.1. 1933 hatte Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen, der ein Kabinett mit Deutschnationalen und dem "Stahlhelm" bildete. Der Brand des Reichstags in Berlin am 27. Februar 1933 wurde von den Nationalsozialisten den Kommunisten angelastet und zum Vorwand für eine große Verhaftungswelle. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erreichte die NSDAP 288 Mandate (44 %, zusammen mit den Deutschnationalen 52 %).
Am 23. März 1933 legte Hitler dem Reichstag in Berlin das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vor. Durch dieses sog. "Ermächtigungsgesetz" sollte der neuen Regierung für vier Jahre u. a. erlaubt sein auch ohne Zustimmung des Reichstages die gesetzgebende und ausführende Gewalt auszuüben, was faktisch der Selbstentmachtung des Reichstags gleichkam. Am 23. 3. 1933 waren die kommunistischen Abgeordneten vom Reichstag bereits ausgeschlossen. Nur die 94 Abgeordnete zählende SPD‑Fraktion stimmte schließlich gegen das Ermächtigungsgesetz.
Otto Wels (1873‑1939), seit 1919 einer der Vorsitzenden der SPD, die er von seiner anschließenden Emigration 1933 bis zu seinem Tode in Paris 1939 im Exil führte, nahm für die SPD‑Fraktion am 23.3.1933 zum "Ermächtigungsgesetz" in einer Rede vor dem Reichstag in der Berliner Kroll‑Oper Stellung.