Die drei Quellen der Erkenntnis bei der Interpretation
Für einen methodisch transparenten und nachhaltigen Umgang mit Gedichten ist es wichtig, sich der Quellen und damit auch der Ebenen des Verständnisses zu versichern.
Ebene 1: Der Text selbst
Vorrang hat auf jeden Fall immer der literarische Text. Deshalb ist es auch so wichtig, sich nicht zu früh um den Autor oder Fixierungen der Wissenschaft zu kümmern, auch nicht um Lehrerhandbücher ;-)
Ebene 2: Der Blick ins literarische Umfeld
Als nächstes kann man dann andere Gedichte desselben Autors heranziehen. Das ist etwa wichtig, wenn man Rilkes Verwendung des Begriffs "Engel" richtig verstehen will.
An dem Beispiel unten kann man zudem sehen, dass man natürlich auch andere Werke der gleichen Zeit für das Verständnis nutzen kann - denn jeder Dichter ist auch ein Kind seiner Zeit.
Ebene 3: Die Wissenschaft
Überschätzt wird zum Teil die Rolle der Wissenschaft für den Deutschunterricht. Denn erst mal ist es für Schüler sicher wenig reizvoll, immer etwas vorgesetzt zu bekommen von Leuten, die deutlich älter sind, alles wissen und - Gott sei's geklagt - manchmal auch eine Wahrnehmungssperre haben für Beobachtungen und Einsichten außerhalb der breiten Straße des Gewohnten.
Andererseits gibt es natürlich auch wissenschaftliche Darstellungen (damit ist hier alles gemeint, was von Fachleuten geschrieben wird, also auch Lehrerhandbücher oder Lektürehilfen), die adressatengerecht sich auch an Schüler wenden. Das heißt, die werden abgeholt, ernst genommen und es wird immer unterschieden zwischen dem, was man als "naiver" Leser selbst herausbekommen kann, und dem, was Experten "aufhellen" können.
Noch einmal: Nur bei dieser Reihenfolge kann man den Vor-Urteilen auch der Wissenschaft entkommen und manchmal einen zumindest kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung des kulturellen Wissens leisten.
Nicht vergessen werden sollte, dass die Wissenschaft spätestens dann keine Rolle mehr spielt, wenn der Leser als der zweite Autor ins Spiel kommt - getreu dem alten Grundsatz: "Kunst entsteht im Auge des Betrachters" - das sollte doch auch wohl für die Literatur und dann auch für den Deutschunterricht gelten.
Unser Beispiel für die Verbindung von Ebene 1 und Ebene 2
Georg Trakl
Verfall
01: Am Abend,
wenn die Glocken Frieden läuten,
02: Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
03: Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
04: Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
05: Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
06: Träum ich nach ihren helleren Geschicken
07: Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
08: So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
09: Da
macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
10: Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
11: Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
12: Indes wie blasser Kinder Todesreigen
13: Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
14: Im Wind sich fröstelnd
blaue Astern neigen.
Das Gedicht ist insofern auch reizvoll, weil es die Frage aufwirft, ob es in dem Gedicht primär um den Herbst und damit den Wechsel der Jahreszeiten mit der Option auf einen neuen Frühling geht (grün markierte Verszeilen) - oder aber geht es um das Ende des Lebens.
An dieser Stelle muss ganz deutlich gesagt werden, dass das plötzlich einschießende "Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern" ganz eindeutig einen Wechsel markiert. Dazu kommen die deutlichen Hinweise auf Vergänglichkeit bzw. Tod ("Todesreigen", "verwittern", "fröstelnd").
Man kann aber auch, wenn man die beiden "Weltende"-Gedichte von van Hoddis und Lasker-Schüler vorher behandelt hat, darauf verweisen, dass der Herbst als Jahreszeit eher ein epochentypisches Element der Romantik ist, während "Todesreigen" und "Weltende" eher zum Grundgefühl des Expressionismus gehören.
Auf jeden Fall ist es sicher interessant, auf dieses Gedicht noch einmal zurückzukommen, wenn man zunächst den Expressionismus und dann die Romantik behandelt.