Anmerkungen zum Gedicht "Niemand" von Rose Ausländer
Der Titel des Gedichtes ist sehr allgemein. Auf jeden Fall geht es darum, dass an irgendeiner Stelle kein Mensch ist oder etwas hat oder tut.
Die erste Zeile des Gedichtes wird dann konkreter: Das Lyrische Ich stellt sich als "König Niemand" vor, hat also zumindest eine hohe Position, der Rest aus den Vorüberlegungen bleibt erhalten.
Die Zeilen 2 und 3 werden dann noch genauer: Jetzt wird deutlich, dass es bei diesem "König Niemand" um einen geht, der nur ein "Niemandsland" hat, das er auch noch in der Tasche tragen kann. Hier denkt man natürlich an die Übergangsgebiete zwischen zwei Staaten, die als Niemandsland bezeichnet werden, um etwas Abstand zwischen den Staaten und ihren Grenzorganen zu haben. Hinzu kommt der Aspekt der Winzigkeit ("in der Tasche") und der des Unterwegsseins.
Die Zeilen 4 und 5 sind dann noch genauer, weil sie deutlich machen, dass das Lyrische Ich aktuell keine Heimat hat oder zu weit von ihr entfernt ist. "Von Meer zu Meer" soll wohl die Unendlichkeit dieser Fremdenreise deutlich machen. Da ist nirgendwo Land, wo man "anlanden" kann.
Die Zeilen 6-8 bringen dann einen Perspektivwechsel: Jetzt geht es nicht mehr um die Situation des Lyrischen Ichs, sondern es konzentriert sich auf das Element, von dem es sich umgeben fühlt. Hervorgehoben wird der Farbwechsel, mal sieht es sich - vermenschlicht - "blauen", mal "schwarzen" Augen gegenüber. Die Farbe "blau" könnte für Romantik stehen, die Farbe "schwarz" ist dann deutlich negativer. Schließlich löst sich jede Farbe auf - also eindeutig ein negativer Prozess, den jeder nachvollziehen kann, der immer nur als Fremder unterwegs gewesen ist, nirgendwo ankommen konnte.
Die Zeilen 9-11 erklären dann den Namen dieses Königs: Er fühlt sich äußerlich fremd, nicht angenommen, dann will er auch von sich aus fremd bleiben, unerkannt und legt sich deshalb einen "falschen Namen" zu, der ihm wohl mehr Sicherheit gibt. Man wird erinnert an Flüchtlinge heute, die ihre Ausweispapiere wegwerfen, weil sie glauben, damit ihre Lage zu verbessern, gewissermaßen als Ausgleich für das Gefühl, nicht anzukommen, nicht wirklich angenommen zu werden.
Dann ein erstaunlicher, fast rätselhafter Wechsel des Selbstverständnisses: Das Lyrische Ich sieht sich offensichtlich wirklich als König und würde es als unangenehm empfinden, wenn die Menschen, denen es als Fremder begegnet, diesen inneren Wert erkennen würden. Wenn da stehen würde: '"Niemand weiß ..." - dann würde man so etwas wie Bedauern herauslesen: "Auch ich bin doch ein Mensch, der als Fremder den Einheimischen etwas geben könnte." Das "argwöhnt" aber ist wie eine innere Abgrenzung - dieses Lyrische Ich will unerkannt bleiben, wenn ihm auch in der Fremde nur ganz wenig bleibt, eben nur ein "heimatloses Land'", das man in der Tasche tragen kann.
Hier eröffnen sich jetzt große Spielräume, aber auch Herausforderungen für die Interpretation, wenn man nur das Gedicht selbst nimmt und auf alle biografischen Bezüge verzichtet.
Die negative Variante wäre, dass dieser fremde Mensch voller Misstrauen ist und deshalb möglichst wenig von sich selbst preisgeben will.
Die positive Variante wäre, dass dieser fremde Mensch sich positiv auf das konzentriert, was ihm noch geblieben ist und was er schätzt - und das vor anderen verbergen, schützen will.