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"Der goldne Topf" - Vorstellung der Interpretation von Dieter Schrey

Warum mehr als Lektürehilfen?

Natürlich ist es sehr hilfreich, wenn man sich eine der gängigen Lektürehilfen oder Interpretationen besorgt und damit in die eigene Lektüre eines Werkes einsteigt.

Manchmal möchte man aber auch ein bisschen tiefer einsteigen - und dann kommt man um eine andere Art von Darstellung nicht herum. Normalerweise findet man sie in Fachzeitschriften oder speziellen Fachbüchern, aber auch im Internet gibt es einiges, was man sich anschauen kann.

Dazu gehört ein "Aufsatz" - so würde man es in der Wissenschaft nennen - von Dieter Schrey, in dem er sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des "goldnen Topfes" beschäftigt, wie er in Hoffmanns Novelle vorgestellt wird.

Zu finden ist sie unter dem Titel: "Der Goldne Topf - Auf der Himmelsleiter - Gan unten und ganz oben"
http://home.bn-ulm.de/~ulschrey/literatur/hoffmann/goldtopf.html

Die Lektüre ist für Schüler nicht ganz einfach, deshalb gegen wir hier einige Hilfen. Ziel ist aber auf jeden Fall, dass man den Gedanken des Autors auch selbstständig folgt und sich mit ihnen auseinandersetzt.

Im folgenden gehen wir von der PDF-Datei aus, die man auf der angegebenen Seite herunterladen kann.
Aufbau des Artikels:

Vorüberlegungen
  1. Lebensgeschichte des Autors - Geschichte von Anselmus - Mythos der "schöpferischen Qual"
    • Der Artikel beginnt mit der Frage, wieso dem "Gespensterhoffmann" plötzlich "zauberhafte Leichtigkeit" im Falle dieser Novelle bescheinigt wird.
    • Dies führt zu der These, das beruhe auf einem Missverständnis, denn in Wirklichkeit gehe es in diesem Werk um keine Idylle und auch keine positive Utopie.
    • Dem Leser werde zwar eine Art Himmelsleiter ins Märchenhafte angeboten, am Ende aber erwarte ihn zusammen mit dem Erzähler ein tiefer Fall, wenn er sich zu sehr mit der Hauptfigur identifiziert habe und ihr bis ins Paradies von Atlantis gefolgt sei.
    • Der Verfasser verweist darauf, dass das Besondere dieser Novelle darin bestehe, dasd Hoffmann und sein Erzähler einerseits eine  außergewöhnlich enge Beziehung zwischen der normalen Welt und der der Fantasie beschreiben, andererseits beide Ebenen aber auch "unüberbrückbar getrennt" (3)  seien.
    • Dies wird vom Verfasser mit Blick auf die politischen Geschehnisse während der Entstehung der Novelle (Befreiungskriege gegen Napoleon) erklärt.
    • Außerdem wird die Position der Novelle abgegrenzt von der Frühromantik: Die habe noch die "Geschichte der glücklichen Rückkehr zum Ursprung der Natur" (3)  geschrieben, Bei Hoffmann gehe es um den "nie ans Ziel kommenden Flug des Phönix aus der Asche", eine deutlich kompliziertere Situation mit weniger einfachen Hoffnungen für  den romantikbegeisterten Leser.
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  2. Erzähler und Leser als Hauptperson
    • Ausführlich geht der Verfasser auf eine Episode der 7. Vigilie ein, in der Leser zumindest im Sinne einer Möglichkeit bzw. eines Wunsches direkt in die Handlung einbezogen wird. Das geht so weit, dass der Erzähler den Leser am liebsten zur Pistole greifen sehen möchte. 
    • Insgesamt kommt der Autor zu der Feststellung: "Anselmus steht zwar im Mittelpunkt der Handlung, aber alles läuft hinaus auf die Situation des Erzählers, der in einem Überraschungs-Coup in der 12. Vigilie in seine eigene Erzählung als handelnde Person einsteigt bzw. die Fiktion in seine Wirklichkeit herüberzieht." (6)
    • Letztlich hängt für den Autor des Artikels alles davon ab, wie der Schluss der Novelle verstanden wird. Er betont dabei den Gegensatz zwischen dem scheinbar so guten Leben des Anselmus auf seinem Rittergut in Atlantis und dem Erzähler in "bürgerlich-armseliger 'Dachstuben-Existenz'" (6).
    • Auch nicht nur positiv wird das Schicksal des Archivarius gesehen, der ja noch darauf warten muss, dass auch seine beiden anderen Töchter einen ähnlichen Jüngling wie diesen Anselmus finden. 
    • Für möglich gehalten wird sogar, dass der Leser so sehr in diese Welt einbezogen wurde, dass er selbst auf dem Weg nach Atlantis ist. Dann hat der Erzähler oder der hinter ihm stehende Autor seine Aufgabe "einer neuartigen, nicht mehr klassischen ästhetischen Erziehung" (7) erfüllt.
    • Interessant ist der Hinweis, dass dem Erzähler ja in der 12. Vigilie die gleiche Vision geschenkt wird wie in der 8. Vigilie dem Anselmus, wobei dann wie von selbst, auf geheimnisvolle Weise ein entsprechender Text entsteht: "Der eigentliche Poet ist Seher und Automat" (8).
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  3. Die Ambivalenz von Atlantis
    • Erstaunlich oder auch erfreulich kritisch wird die Existenz des ehemaligen Studenten Anselmus in Atlantis gesehen. Für den Verfasser ist er "aus der Dialektik von Schauen und Kopieren herausgefallen" (8)  und damit eben nicht "zum wirklichen Dichter geworden", sondern entspricht eher dem wahnsinnigen Serapion. Hier bezieht sich Schrey auf eine Figur in den "Serapionsbrüdern" Hoffmanns. Zu finden ist das entsprechende Kapitel zum Beispiel hier.
    • Interessant ist auch die Einbeziehung einer Interpretation von Rüdiger Safranski, der das Schicksal des Anselmus mit dem des Elis Fröbom in Hoffmanns "Die Bergwerke von Falun" vergleicht. Bei ihm handelt sich um einen Bergmann, der am Hochzeitstag seine Braut verlässt, weil er einer geheimnisvollen Bergkönigin verfallen ist. Im Bergwerk wird er verschüttet und lange Zeit später tatsächlich kristallisiert wieder aufgefunden. Schrey zieht daraus mit Safranski den Schluss, das eben auch die Welt des Wunderbaren beziehungsweise von Atlantis zu einem gläsernen Gefängnis werden kann. Letztlich komme es auf ein "Dazwischen", eine sinnvolle und lebensfähige Verbindung von bürgerlicher und romantischer Existenz an.
    • Einbezogen wird auch das "Märchen von Hyazinth und Rosenblüte" von Novalis, wobei es darum geht, dass ein Liebender letztlich im Tempel als der Gegenwart des Göttlichen beim Anheben des Schleiers keine überirdische Gestalt vorfindet, sondern seine "bürgerlich-normale Freundin" (8) und mit ihr glücklich wird. Schrey geht so weit, das auch für Anselmus als bessere Lösung anzusehen, was allerdings bedeuten würde, dass er mit Veronika ins alltägliche Leben zurückkehrt. Das kommt einem doch sehr unwahrscheinlich vor angesichts von deren Interessen und Manipulationen. Immerhin ist da auch noch ihr Vater, der Anti-Romantiker schlechthin. 
    • Für Schrey wird hier der Unterschied zwischen Früh- und Spätromantik deutlich. Bei Novalis gelingt für ihn noch die "Vermittlung von Traumwelt und Realität", bei Hoffmann erscheint ihm nur die Aufspaltung in entweder eine bürgerliche oder eine romantische Einseitigkeit möglich und der Erzähler ist für ihn "hin- und hergerissen zwischen beiden Polen und dadurch innerlich zerrissen". (9)
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  4. Der serapiontische goldne Topf
    • Dieser Teil des Aufsatzes ist mit der wichtigste, wenn es um die Frage geht, was man als heutiger Leser mit Hoffmanns Novelle anfangen kann.
    • Ausgehend vom Anfang der 4. Vigilie arbeitet Schrey die kleine Poetik des "Goldnen Topfes" heraus: Die besteht im Wesentlichen darin, "das alltägliche Leben ganz gewöhnlicher Menschen ins Blaue hinauszurücken".
    • Der Kritik, damit würden andere Menschen auf recht problematische Art und Weise in andere und zwar romantische Kontexte hineingezogen, was nicht viel anders sei als das, was das Äpfelweiblein mit seinem Metallspiegel betreibt, entgegnet Schrey: Diesem Schritt gehe der andere voraus, nämlich die innere Schau einer verborgenen, also schon vorhandenen Wirklichkeit. Das heißt, was aus dem normalen bürgerlichen Kontext herausgelöst und ins Romantische verschoben wird, ist dort eigentlich schon vorhanden, nur ist das noch nicht erkannt worden. Es wird jetzt erst vom Poeten als Wirklichkeit dargestellt und hat damit auch Legitimität.
    • Dies bezeichnet Schrey als das "serapiontische Prinzip" (9), bei dem es letztlich darauf ankomme, nicht nur andere zu erkennen, sondern vor allem sich selbst.
    • Für Schrey handelt die Novelle nicht nur vom Goldnen Topf, sie ist selbst einer. Dem Leser, der sich darauf einlässt, ergeht es dann wie Anselmus, Man sieht sich dort, wie man (auch) wirklich ist: "Auf der spiegelblanken Fläche des Goldnen Topfs können die Lebensgeschichte des Lesers wie die des Erzählers/Autos darin koinzidieren, dass sie sich selbst und die Ereignisse der konkreten Welt um sich herum im mythischen Geschehen des 'wundervollen Reichs' wiedererkennen. (10)
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  5. Der Phosphorus-Mythos
    • In diesem Abschnitt geht der Verfasser auf die romantisch-naturphilosophische Bedeutung des Mythos von Phosphorus ein, der heutigen Lesern so fremd sei, dass das sie ihn genauso als "Schwulst" empfinden wie der Registrator Heerbrand. Das erklärt sich Schrey so, dass dieser Teil der Novelle "einen anders gearteten Wahrheitsanspruch erhebt als die empirische Erkenntnis." (10)
    • Der Verfasser geht noch genauer auf die Quellen dieser Vorstellungen ein, die Hoffmann genutzt hat. Entscheidend dabei ist, dass zwischen diesen aus dem Jahre 1808 und der Novelle von 1814 "die Scheidelinie zwischen Noch-Optimismus und Resignation" verläuft, was "die Möglichkeit eines realen, geschichtlich-gesellschaftlichen Glückszustands des Menschen" angeht. "Pantheismus schlägt bei E.T.A. Hoffmann um in Nur-noch-Poesie, Kunst der Moderne, eine Position bereits der Autonomie der Kunst als Abgehobenheit von der gesellschaftlichen Lebenspraxis, der Lebenspraxis der Gegenwart und der Zukunft; das romantische Programm einer Vermittlung von Idealität und Realität durch die Kunst wird abgelöst von einem Programm der ständigen Verwandlung des einen in das andere und umgekehrt, auf der Basis einer fundamentalen Ambivalenz."  
    • Was ist darunter zu verstehen? Im Jahre 1808 ging man noch einer gegenseitigen Durchdringung realer und romantischer Welt aus ("Pantheismus"). Bei Hoffmann stehen sich Realität und Kunst gegenüber und die Aufgabe ist es, das eine immer wieder in das andere zu verwandeln und umgekehrt. Beides soll sich also ergänzen, aber durchaus unterschiedlich bleiben.
    • Dies ist aber durchaus auch chronologisch zu verstehen - als ständige Abfolge von Untergang und Wieder-Auferstehung. Es ist ein ständiger Kreislauf, in dem nur die Erzählungen selbst gewissermaßen Haltepunkte markieren können. Vor diesem Hintergrund muss das Nebeneinander von (scheinbarem) Glück des Anselmus auf Atlantis und Unglück des Erzählers am Ende der Novelle gesehen werden. Wir fügen hinzu: Im Kopf und auf der Ebene des Lesers kann das fortgesetzt werden, was auch eine reizvolle kreative Aufgabe für die Schule wäre.
    • Am Ende dieses Abschnitts geht Schrey dann ins Religiöse über, spricht von der Jenseitshoffnung Hoffmanns - gerade auch vor dem Hintergrund einer unerfüllten Liebe und endet mit dem schönen Satz: "Bis zu diesem vielleicht endgültigen "höheren Sein" muss das Leben noch ausgehalten werden. Und hier ist dann der 'Trost der Phantasie', der Kunst gefragt." (12)
  6. Der im Kunstwerk aufgehobene Wiederholungszwang
    • In diesem Abschnitt geht der Verfasser auf das Problem der ständigen Verwandlung von bürgerlicher in poetische Welt und umgekehrt ein, was einen "in den Wahnsinn führenden Wiederholungszwang" (12) bedeutet.
    • Die Lösung des Problems liegt darin, dass der Wandel „jeweils vom Erzähler aus freien Stücken inszeniert“ (12) wird, „Als Feuerwerk phantastischer Verwandlungen, immer neuer ‚kosmischer Momente’ des Übergangs von Schwermut in Seligkeit, Liebestollheit in Zerstörung“. Damit entzündet er „in seinen Zuschauern den Funken der Liebe oder des Gedankens ... Geist, Phantasie, mystische Imagination – und Ironie.“ (12)
    • Besonders der letzte Aspekt scheint Schrey wichtig zu sein, weil das auch zum „befreienden Lachen“ führt, dem „Schmerzeslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Innern sich regt.“ (12)
    • Objekt der Satire ist alles, was unfähig zur Verwandlung ist. Bei Anselmus wird im Vergleich dazu eine positive horizontale Entwicklung festgestellt, beim Archivarius eine vertikale vom Bürger „zum Mythenerzähler, zum mythischen Geisterfürsten, zum ambivalenten Zwischenwesen, zum Geier und Adler, zum alkoholischen Geist im Pokal.“ (12/13) Er wird gesehen als eine „Spiegelung des Erzählers, der im Rahmen der Handlung alle Verwandlungen inszeniert, beim Leser für Verwandlungen sorgt und sich zum Schluss selber wandelt.“ (13).
  7. Zusammenfassung
    • Am Schluss gibt es Überlegungen, die sich wohl in erster Linie auf die Zeit beziehen, in der Hoffmann lebte, die man aber wohl auch auf unsere Zeit übertragen kann.
    • Es geht darum, dass die Zeit, „das zum mythischen Wesen avancierte Zeitgeschehen, die Rolle der Phantasie usurpiert (...) und offensichtlich bei weitem übertroffen und bei ihrem ‚Publikum’ einen ungeheuren Erfolg errungen“ (13) hat. Da „die Blütezeit der dämonisch-phantastischen Realität (...) aber wie jede Blütezeit ‚ihre eigne Vernichtung’ bereits in sich trägt“, „muss eine Auferstehung der phantastischen Idealität“ folgen.
    • Darin sieht – nach Schrey – Hoffmann seine Aufgabe: „ Und so hebt der Erzähler seine Leser nicht ‚gewaltsam’ empor, wie Napoleon und andere die Menschen ihrer Zeit emporgerissen haben, sondern mit ‚zauberhafter Leichtigkeit’ nicht in ‚schwindelnde Höhen’, sondern auf der am Boden stehenden Himmelsleiter des Märchens mit der Kraft der spielenden und ironischen Phantasie.“ (13)
    • Allerdings sieht Schrey hier durchaus eine dialektische Position, bei der dem Erzähler viel gelingt, er aber am Ende doch wieder „ganz unten auf der Leiter angekommen ist“, „in ‚schöpferischer Qual’“ (13).
    • Deutlich wird hier noch einmal, dass es eben zwei Realitäten gibt, zwischen denen immer wieder gewechselt werden muss: Da gibt es die Napoleons, den der Philosoph als „Weltgeist zu Pferde“ verklärt hat – und es gibt eben diesen Hoffmann, der mit seiner Novelle diesen „Schmerzeslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Innern sich regt“ von sich gibt, was dann auch ein Moment des Trostes enthält.
    • Zur Dialektik gehört aber eben auch, dass beide Ebenen sich am Ende in „schöpferischer Qual“ verbinden, was hier wohl eindeutig positiv gemeint ist und das Wesen aller Kunst bezeichnet.
Fassen wir für uns zusammen, was diesen Artikel über ein besseres Verständnis der Novelle hinaus wertvoll macht
  1. Für den Verfasser ist die Novelle "keine Idylle, entwirft keine Utopie". "Zwar soll der Leser die 'Himmelsleiter' des Märchens (... )möglichst hoch hinaufklettern – aber genauso tief wird dann sein Fall sein, der ihn auf der letzten Seite des Märchens zusammen mit dem Erzähler plötzlich erwartet." (1)
  2. Für Schrey sind eigentlich der Erzähler und der Leser die Hauptpersonen der Novelle. (6) Deutlich wird das an den Schwierigkeiten, die der Erzähler am Ende der Novelle hat. Der Schluss schreibt sich zwar auf geheimnisvolle Art und Weise aus ihm heraus, Er bleibt aber trotz aller poetischen Nähe zum Geschehen am Ende von seinem Glück auf Atlantis ausgeschlossen.
  3. Auch stellt sich die Frage, ob es sich um ein wirkliches Glück handelt, was Anselmus auf Atlantis erlebt. Nach Auffassung des Verfassers ist Hoffmann weder für die bürgerliche Welt noch für eine reine Kunstwelt, sondern er möchte Übergänge dazwischen.
  4. Die Kunst ersetzt also nicht das bürgerliche Leben, sondern hilft, in ihm zu überleben (vgl. S. 12).
  5. Das geschieht dadurch, dass der Poet im ständigen Wechsel zwischen bürgerlicher und romantischer Welt einen ganz bestimmten Moment festhält und zum nachhaltigen Leuchten bringt. Damit wird ein Stück "Trost der Phantasie" geboten, die es erlaubt, das Leben leichter auszuhalten.
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