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Gedichte mit Gebrauchsanleitung?
Anstoßtext: Gedichte mit Gebrauchsanleitung?
Der folgende Text ist in unserer Schreibwerkstatt von einem Lehrer geschrieben worden, der sich selbst über ein Gedicht geärgert hatte, was dem Leser eher Stress als Freude bereitete.
Es gibt den Begriff der hermetischen Lyrik, das ist eine abgeschlossene und in gewisser Weise nach außen auch schwer oder gar nicht verständliche. Warum kann man die dann nicht hermetisch lassen und sich anderen Gedichten zuwenden, die mehr an Kommunikation mit ihren Lesern interessiert sind.
Wieso gilt nicht auch bei den Gedichten zumindest in der Schule die Adressaten-Orientierung, eine gewisse Verpflichtung in der Kommunikation, die andere Seite abzuholen.
Das heißt. nicht, dass Gedichte immer einfach sein müssen. Aber ein Gespräch über sie lohnt sich nur, wenn es dafür die Voraussetzungen gibt. Natürlich soll man sich auch mit hermetischer Lyrik beschäftigen, aber dann sollte den Schülern auch gesagt werden, was sie da vor sich haben. Sonst suchen sie verzweifelt nach einem Sinn, den es für sie gar nicht gibt.
Im Ergebnis haben sie noch weniger Lust auf Gedichte und den Schaden haben alle die Dichter, die sich tatsächlich mit ihren Texten an verständige Leser wenden.
Langer Rede kurzer Sinn: Wenn ein Gedicht sich in sich selbst verschließt, dann sollte man es entweder beiseite legen oder es ganz offen und entspannt für sich selbst auf den Prüfstand stellen. Auf jeden Fall sind andernfalls solche Gedichte Gift für den Versuch, junge Menschen an Lyrik heranzuführen. Es geht nur mit einer passenden Bedienungsanleitung.
Beispiel für ein hermetisches Gedicht, das nur mit Hilfen verstanden werden kann:
Da wir keinem Autor zu nahe treten wollten, haben wir selbst einfach einmal ein Beispiel für ein "hermetisches" Gedicht erstellt:
Nachkarten
Warum fuhr ich hin?
Es hätte
auch weniger gereicht.
Warum machte ich weiter?
Statt anderes?
Warum das lange
Hin-und-her-Zittern
Vor dem Telefon?
Statt zu würfeln?
Warum schreibe ich dies?
Statt ...
Was man bei dem Gedicht schnell erkennt (siehe die farblichen Markierungen), ist die inhaltliche Struktur. Drei Fragen, die sich das Lyrische Ich stellt, drei Alternativen - und am Ende ein offener Schluss.
Was man als Leser nicht unbedingt erkennen kann, sind biografische Elemente, die hier verarbeitet worden sind:
- Eine Ausflugsfahrt zu einem weiter entfernten Ziel, die nicht das gebracht hat, was eine nähere Alternative geboten hätte.
- Die fatale Neigung, länger im Internet herum zu surfen, als sich sinnvolleren Tätigkeiten zuzuwenden.
- Eine Situation, die jeder kennt: Soll ich anrufen oder nicht - und die mehr oder weniger ernst gemeinte Alternative, einfach zu würfeln - und bei geraden Augen telefoniert man, bei ungeraden nicht.
- Am Ende dann die Anwendung dieses Verfahrens auf die Schreibsituation selbst, die letztlich in Frage stellt, ob so eine Selbstreflexion vielleicht der gleiche Fehler ist, der vorher beschrieben wurde - und man stattdessen lieber - an der Stelle hat der Autor gedacht, dass er jetzt endlich seinen eigenen Ratschlägen folgen sollte - und zugleich erweckt es den Eindruck, dass die Leser dieses Gedicht selbst fortsetzen sollten - entsprechend ihrer Situation.
- Die Überschrift erschließt sich auch nicht sofort, wenn man nicht wie der Autor das Wort "nachkarten" kennt und häufiger verwendet, das soviel bedeutet wie zu lange bei einem Streit o.ä. zu verweilen, statt konstruktiv nach vorne zu blicken.
Nachkarten
Warum
fuhr ich hin?
Es hätte
auch
weniger gereicht.
Warum machte ich weiter?
Statt
anderes?
Warum
das lange
Hin-und-her-Zittern
Vor dem Telefon?
Statt
zu würfeln?
Warum
schreibe ich dies?
Statt
...
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