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Uhland, "Reisen"


Ludwig Uhland, "Reisen"

Zu unserer Vorgehensweise

  • Was macht das Lyrische Ich?
    Wie immer empfehlen wir, auf das zu achten, was das sog. "Lyrische Ich"
    eigentlich tut, wenn es etwas sagt. Und das ganze Gedicht ist ja nichts anderes als ein einziger Monolog.
  • Dann versuchen wir, die verschiedenen Signale zu bündeln, um Aussagerichtungen zu erkennen.
    Wichtig ist, dass man lückenhafte oder
    schwierige Stellen nur vorsichtig, also hypothetisch und möglichst mit Begründung mit Sinn füllt.
  • Im Sinne der Verstehenslehre der Hermeneutik, prüfen wir unsere Verständnisideen immer am Text und belegen sie möglichst weitgehend.
  • Wenn uns als Leser aus unserer Kenntnis anderer Texte etwas einfällt, so fügen wir das ein. Das sind aber dann keine Ergänzungen, die andere Leser auch einbringen müssen. Wir wollen nur deutlich machen, dass ein Gedicht ein Text ist, auf den man als Leser auch reagieren kann. Allerdings geht das dann schon über die Analyse hinaus in den Bereich der Interpretation.
Ludwig Uhland

Reisen

Reisen soll ich, Freunde! reisen,
Lüften soll ich mir die Brust?
Aus des Tagwerks engen Gleisen
Lockt ihr mich zu Wanderlust?
Und doch hab ich tiefer eben
In die Heimat mich versenkt,
Fühle mich, ihr hingegeben,
Freier, reicher, als ihr denkt.
  • Die erste Hälfte der ersten Strophe beschreibt schon mit einer angedeuteten Zurückhaltung ("soll") die Aufforderung der Freunde, sich aufzumachen und eine Reise zu beginnen. Es werden auch einige Vorteile erwähnt, die damit verbunden sind.
  • Im zweiten Teil der ersten Strophe wird dann deutlich, was das lyrische Ich in diese Distanz hinein bewegt hat, nämlich ein erstaunliches Maß an Zuneigung zur Heimat, verbunden mit der Behauptung, dass die viel mehr Reichtum beinhaltet, als man normalerweise denkt.

Nie erschöpf ich diese Wege,
Nie ergründ ich dieses Tal,
Und die altbetretnen Stege
Rühren neu mich jedesmal;
Öfters, wenn ich selbst mir sage,
Wie der Pfad doch einsam sei,
Streifen hier am lichten Tage
Teure Schatten mir vorbei.

  • In der zweiten Strophe wird dann dieser Reichtum näher beschrieben
  • und er besteht vor allem darin, dass sich die Wirklichkeit der Heimat offensichtlich immer wieder neu präsentiert.

Wann die Sonne fährt von hinnen,
Kennt mein Herz noch keine Ruh,
Eilt mit ihr von Bergeszinnen
Fabelhaften Inseln zu;
Tauchen dann hervor die Sterne,
Drängt es mächtig mich hinan,
Und in immer tiefre Ferne
Zieh ich helle Götterbahn.

  • Die dritte Strophe ist dann etwas seltsam. Sie wendet sich dem Abend zu und spricht von Ruhelosigkeit.
  • Das sollte einen als Leser schon misstrauisch machen, vor allem dann, wenn weiter oben von "Schatten", einem in dem Zusammenhang wohl nicht positiv besetzten Begriff, die Rede ist.
  • Im zweiten Teil der Strophe wird dann ein ganzes Panorama fantastischer Welten entworfen, die das lyrische Ich immer mehr in eine "helle Götterbahn" lenken, was zum einen positiv klingt, zum anderen aber auch schon fast nach Hybris (Selbstüberhebung des Menschen) aussieht.
  • Auf jeden Fall gibt es hier einen Widerspruch zwischen der zwischen dem am Anfang angesprochenen Erfahrungs- und Erinnerungsreichtum und dem jetzt plötzlich auftauchenden Fantasie-Reichtum, der ja eher in die Ferne reicht.

Alt' und neue Jugendträume,
Zukunft und Vergangenheit,
Uferlose Himmelsräume
Sind mir stündlich hier bereit.
Darum, Freunde! will ich reisen;
Weiset Straße mir und Ziel!
In der Heimat stillen Kreisen
Schwärmt das Herz doch allzuviel.
  • In der letzten Strophe wird die etwas seltsame These vertreten, dass man besonders in der Heimat ganz intensiv zum einen in Richtung Erinnerungen geht, zum anderen in Richtung Fantasie.
  • In der zweiten Hälfte kommt dann die Wende, dass dieses lyrische ich, das bis jetzt so begeistert zu sein schien von seiner Heimat und ihren Möglichkeiten, offensichtlich doch unter einer erstaunlichen Ruhelosigkeit leidet.
  • Diese bringt das lyrische Ich dazu, sein Heil tatsächlich eher in der Fremde zu suchen und damit der Aufforderung der Freunde zum Reisen zu folgen.
  • Man muss das letztlich wohl so verstehen, dass die Heimat wirklich einen großen Reichtum enthält, aber eben auch einen Reichtum, der in die Tiefe und in die Weite führt  - und zwar auf eine Art und Weise, die letztlich als "Schwärmerei" bezeichnet wird, also eine übertriebene Aktivität der eigenen Seele und des eigenen Kopfes.
  • Offensichtlich erhofft sich das lyrische Ich durch reale äußere Anregungen, wie sie sich beim Reisen ergeben, eher eine innere Ruhe zu finden als in den fantastischen Räumen des eigenen Inneren.
  • Wenn man versuchen will, dass jetzt irgendwie im eigenen Leben oder in den Erfahrungen anderer zu verorten, dann kann man zum Beispiel an jemanden denken, der mit einem Erlebnis nicht klarkommt, sich zum Beispiel immer wieder die Frage stellt, warum er sich so verhalten hat, dabei vielleicht schuldig geworden ist. Dem ist wirklich zu empfehlen, sich doch mal tatsächlich Erfahrungen auszusetzen, die einen aus seiner fruchtlosen Grübelei herausreißen.
  • Oder man denkt an einen Menschen, der sich in irgendeine Fantasie hinein vergräbt, zum Beispiel die Idee einer Erfindung, und sich dann daraus gar nicht mehr befreien kann. Oder er will die ganze Welt retten und verliert sich dabei selbst und sein Umfeld. Auch hier lässt sich vielleicht die Erfahrung machen, dass eine Reise mit neuen Eindrücken einen auch aus solchen Fantasiezwängen befreien kann.

Was die Aussagen bzw. die Intentionalität angeht, so zeigt das Gedicht ...
  1. den Reichtum, den auch eine gewohnte Umgebung präsentieren kann, vor allem dann, wenn man über ein entsprechendes Innenleben verfügt, das zum Beispiel auch stark in Erinnerungen lebt.
  2. Das Gedicht zeigt zum anderen, dass ein solches Innenleben sich aber nicht nur mit  der eigenen Vergangenheit und den eigenen Erfahrungen intensiv und manchmal auch zu intensiv beschäftigt, sondern sich auch fantastischen Welten bzw. Ideen zuwenden kann, in die man sich regelrecht hineinträumt.
  3. Dann wird deutlich, dass eine solche innere Intensität auch belastend sein kann, weil man sich gar nicht mehr aus ihr befreien kann.
  4. Vor diesem Hintergrund wird das Reisen hier begriffen als eine Befreiung von zu großer Innerlichkeit, indem man sich der äußeren Wirklichkeit stärker hingibt und dabei eben auch auf andere Gedanken kommen.
  5. Das Gedicht ist insofern besonders interessant, weil es zwei Elemente, die die Romantik kennzeichen, zum einen die Fantasie, zum anderen das Reisen,  auf eine sehr besondere Art und Weise verbindet: Das zweite wird hier nämlich zur Rettung aus dem ersten.

Weiterführende Hinweise

  • Ein alphabetisches Gesamtregister aller Infos und Materialien gibt es hier
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/uebersichten/alphabetische-uebersicht-ueber-die-infos-und-materialien
  • Eine Liste unserer Videos bei Youtube findet sich hier:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/uebersichten/101-uebersicht-ueber-lernvideos

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