Goethe, "Wanderlied" - 2 Fassungen, die zeigen, dass auch Dichter ihre Meinung ändern
Goethes "Wanderlied" ist deshalb so interessant, weil es davon eine mehr oder weniger offizielle Fassung gibt, die aus dem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" entnommen worden ist. Zum anderen gibt es noch eine Art Geburtstagsfassung für den Dichter, die aber wohl von ihm selbst verfasst oder zumindest autorisiert worden ist.
Die Langfassung, wie man sie in einem Schulbuch und auf einigen Seiten im Internet findet
Man findet diese Fassung aber auch zum Beispiel auf den beiden folgenden Seiten:
und
Goethe
Wanderlied
01 Von dem Berge zu den Hügeln,
02 Niederab das Tal entlang,
03 Da erklingt es wie von Flügeln,
04 Da bewegt sich's wie Gesang;
05 Und dem unbedingten Triebe
06 Folget Freude, folget Rat;
07 Und dein Streben, sei's in Liebe,
08 Und dein Leben sei die Tat!
- Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung einer Situation, die auf jeden Fall zu so etwas wie Aufbruch und Aktivität drängt.
- Im Einzelnen wird behauptet, dass "dem unbedingten Triebe" "Freude" und "Rat" folgen, also eine gute Stimmung und dann auch das, was für einen Erfolg nötig ist.
- Der Schluss betont noch einmal die Notwendigkeit der Tat, also der Aktivität.
- Nicht ganz klar ist ist die Zeile 7, was den Schluss angeht. Offensichtlich soll zu allem anderen auch eine Haltung der Liebe kommen.
09 Denn die Bande sind zerrissen,
10 Das Vertrauen ist verletzt;
11 Kann ich sagen, kann ich wissen,
12 Welchem Zufall ausgesetzt
13 Ich nun scheiden, ich nun wandern,
14 Wie die Witwe, trauervoll,
15 Statt dem einen, mit dem andern
16 Fort und fort mich wenden soll!
- Die zweite Strophe bringt dann einen extremen Wechsel ins Negative, was die Voraussetzungen der ersten Strophe angeht.
- Irgendwelche "Bande" sind "zerrissen" und das "Vertrauen ist verletzt". Der Zusammenhang ist unklar - jeder kann sich hier als Leser etwas hineindenken.
- Der Rest der Strophe bringt entsprechende Unsicherheit, welche Entscheidungen man treffen soll und wem man sich zuwenden soll.
- Interessant ist der Vergleich mit einer Witwe, die "trauervoll" auf ihre Situation und die Zukunft bringt.
- Der Verlust der Bande weiter oben passt natürlich zu dieser Situation, wie steht es aber mit dem "Vertrauen". Damit kann nur ein allgemeines Vertrauen ins Leben gemeint sein, wenn das Schicksal zugeschlagen hat und man den Ehemann verloren hat.
17 Bleibe nicht am Boden heften,
18 Frisch gewagt und frisch hinaus!
19 Kopf und Arm mit heitern Kräften,
20 Überall sind sie zu Haus;
21 Wo wir uns der Sonne freuen,
22 Sind wir jede Sorge los;
23 Dass wir uns in ihr zerstreuen,
24 Darum ist die Welt so groß.
- Die dritte Strophe geht dann wieder ins Positive zurück - mit dem Aufruf, nicht in der Tiefe der zweiten Strophe wohl "haften" zu bleiben.
- Gleich folgt der Appell an die schnelle Tat, unterstrichen durch die Wiederholung des Wortes "frisch" - das ja im völligen Gegensatz zu verbraucht, überaltert, eventuell sogar tot steht.
- Behauptet wird dann, dass es überall Hilfe gibt, die ebenfalls in froher Stimmung ist.
- Die Sonne als Inbegriff der lebendigen bzw. lebensspendenden Natur wird als Mittel gegen "jede Sorge" angesehen.
- Die letzten beiden Zeilen bringen einen Schlüsselbegriff, den man dem alten Goethe gar nicht zugetraut hätte, nämlich "zerstreuen", das Gegenteil von Sammlung und letztlich auch Bildung. Aber gemeint ist hiermit wohl eher, dass die in Vers 24 angesprochene große Welt eben viel bereithält, das einen aufmuntert und zu neuen Taten bewegen kann.
- Selbstkorrektur: Man kann das aber natürlich auch viel "natürlicher" sehen, indem man das Zerstreuen einfach als ein Sich-Verteilen in der entsprechend groß begriffenen Welt versteht.
- Ein schönes Beispiel dafür, wie man das Opfer seines ersten Verständnisses werden kann.
- Goethe kannte eben noch solche Bibelstellen wie die nach dem Turmbau zu Babel:
"So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde", 1. Mose 11, 1-9
https://www.die-bibel.de/bibelstelle/1.Mose%2011,%201-9
25 Doch was heißt in solchen Stunden
26 Sich im Fernen umzuschaun?
27 Wer ein heimisch Glück gefunden,
28 Warum sucht ers dort im Blaun?
29 Glücklich, wer bei uns geblieben,
30 In der Treue sich gefällt!
31 Wo wir trinken, wo wir lieben,
32 Da ist reiche, freie Welt.
- Dann ein erneuter Blick zurück, ja sogar ins Gegenteil hinein:
- Wenn man die Anmerkung zu dieser Strophe gelesen hat, dann kann man sich vorstellen, dass im Vorfeld von Goethes Geburtstag dieses schon einige Jahre alte Gedicht neu bewertet worden ist.
- Und - vielleicht entsprechend dem zugenommenen Alter - steht jetzt nicht mehr ein frischer Aufbruch an, sondern die Pflege und das Genießen dessen, was man hat.
- Vor allem konzentriert man sich auf die Menschen, die einem treu geblieben sind.
- Und der Blick auf die Welt hat sich abschließend auch verändert, nämlich jetzt ist die Welt nicht eine neuer, unbekannter und anzugehender Taten, sondern eine, die die Grundbedürfnisse des Lebens bereithält, nämlich "trinken" und "lieben". Dabei steht das erste wohl für alle zu befriedigenden körperlichen Bedürfnisse, das zweite dann für die seelischen.
Auswertung in Richtung "Thema" und "Deutungshypothese" / Intentionalität
- Thema des Gedichtes
dürfte wohl der Umgang mit schwierigen Situationen sein, in denen man vor allem "Bindungen" und "Vertrauen" verloren hat. - Deutungshypothese
könnt sein, dass das Gedicht zeigt, wie man in einer solchen Situation auf unterschiedliche Weise wieder sein Leben aktiv positiv gestalten kann. - Intentionalität: Das Gedicht zeigt
- dass es Situationen gibt, in denen man den Glauben an seine Umgebung und auch an sich verloren hat,
- dass man gerade dann auf alles achten sollte, was einen positiv erreicht und einen auf einen positiven Weg bringen kann,
- dass es in einer vielfältigen Welt auch viele Möglichkeiten gibt, das Belastende zu vergessen und sich dem Positiven zuwenden kann,
- dass es aber auch das Gute in der unmittelbaren Umgebung gibt
- und dass man das möglicherweise leichter findet, wenn man sich den Grundbedürfnissen des Lebens zuwendet.
Die Kurzfassung, wie man sie in in einer Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft findet
Johann Wolfgang Goethe. Gedichte. 1800-1832, Hrsg. von Karl Eibl: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1998
Goethe
Wanderlied
01 Von dem Berge zu den Hügeln,
02 Niederab das Tal entlang,
03 Da erklingt es wie von Flügeln,
04 Da bewegt sich's wie Gesang;
05 Und dem unbedingten Triebe
06 Folget Freude, folget Rat;
07 Und dein Streben, sei's in Liebe,
08 Und dein Leben sei die Tat!
09 Denn die Bande sind zerrissen,
10 Das Vertrauen ist verletzt;
11 Kann ich sagen, kann ich wissen,
12 Welchem Zufall ausgesetzt
13 Ich nun scheiden, ich nun wandern,
14 Wie die Witwe, trauervoll,
15 Statt dem einen, mit dem andern
16 Fort und fort mich wenden soll!
17 Bleibe nicht am Boden heften,
18 Frisch gewagt und frisch hinaus!
19 Kopf und Arm mit heitern Kräften,
20 Überall sind sie zu Haus;
21 Wo wir uns der Sonne freuen,
22 Sind wir jede Sorge los;
23 Dass wir uns in ihr zerstreuen,
24 Darum ist die Welt so groß.
Die Erklärung des Unterschiedes findet sich in einer Fußnote der wissenschaftlichen Ausgabe
In dem Werk
Johann Wolfgang Goethe. Gedichte. 1800-1832, Hrsg. von Karl Eibl: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1998
findet man in einer Fußnote zu diesem Gedicht die folgenden Informationen:
- "Wanderlied (S. 480)
- Erstdruck: Wilhelm Meisters . Wanderjahre, erste Fassung (1821); Strophen auf mehrere Stellen verteilt.
- Überliefert auch in einpm Abdruck "Zu Goethes Geburtstage. Weimar, den 28. August 1826
- und in einer Abschrift Zelters,
- datiert 25.8.1826 (mit Komposition, Faksimile im Zelter-Briefwechsel, Bd. 2 S. 487).
- In dieser Geburtstagsversion jedoch fehlt die zweite Strophe,
- und es ist eine weitere Strophe angefügt (auch in einer Handschrift Goethes enthalten ...)
- [...]
- Goethe hat das Gedicht also konsequent zum 'Geselligen Lied' umgeformt."
Kreative Aufgabe - Schreiben einer 5. Strophe als Antwort auf Goethes Geburtstagsergänzung
Vor allem junge Menschen dürften Lust bekommen, der Selbstbeschränkung von Goethes Geburtstagsstrophe etwas entgegenzusetzen.
Zum Beispiel könnte jemand - ganz im Sinne des Romangeschehens (siehe weiter unten) - den Mut haben, Goethe darauf hinzuweisen, dass die Beschränktheiten einer Seniorenexistenz zwar unvermeidlich sein können, dass jeder aktive Mensch aber auch zumindest phasenweise darüber hinausgehen möchte.
Vielleicht könnte jemand ja Goethe auch die Idee vermitteln, die zu dem Buchtitel geführt hat:
"Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand".
Noch mal zur Erinnerung diese Geburtstagsstrophe, an die man anknüpfen könnte:
25 Doch was heißt in solchen Stunden
26 Sich im Fernen umzuschaun?
27 Wer ein heimisch Glück gefunden,
28 Warum sucht ers dort im Blaun?
29 Glücklich, wer bei uns geblieben,
30 In der Treue sich gefällt!
31 Wo wir trinken, wo wir lieben,
32 Da ist reiche, freie Welt.
So könnte man zum Beispiel Goethe zurufen:
33 Doch Wein und Weib sind auch nicht alles ["Weib" ist hier als nicht wertende Bezeichnung für die Frau zur Zeit Goethes zu verstehen!]
34 so dass im Falle eines Falles
35 wenn's Glück ein bisschen erodiert
36 man doch hofft, dass mehr passiert
37 als nur zu Hause vor sich hin zu leben.
38 Der Mensch möcht' halt an Größerem weben.
39 Vielleicht springt er dann aus dem Haus
40 Und schleicht doch in die Welt hinaus.
Wie immer präsentieren wir so etwas nicht, weil wir es für besonders gelungen halten.
Vielmehr wollen wir so eine Art "untere Auffanglinie" im Bereich der Qualität markieren, von der man sich gerne positiv abheben kann ;-)
Aus unserer Sicht ist es in der Schule nur wichtig, dass man Mut entwickelt, sich an so etwas auch mal heranzuwagen.
Und zumindest der junge Goethe hätte an so was seine helle Freude gehabt.
Einbeziehung des Roman-Kontextes, in dem das Gedicht zu finden ist
Wie wir der Fußnote entnehmen konnten, sind die drei ersten Strophen des Gedichtes in den Kontext des Romans "Wilhelm Meisters Wanderjahre" eingebunden.
Zu finden ist das zum Beispiel im Internet unter der folgenden Adresse:
Wichtig ist, hier die verschiedenen Varianten des Textes zu erkennen:
- Es gibt ihn als einzelnen Text, als ein Gedicht, das man in seinen zunächst drei Strophen ganz normal interpretieren kann.
- Zugleich sind diese drei Strophen auch Teil einer Romanhandlung und werden dort auch zumindest teilweise in einen Interpretationskontext gestellt.
- Außerdem gibt es eine wohl biografisch geprägte spätere Fassung, bei der dem alten Goethe die negative zweite Strophe nicht mehr zugemutet wurde und er zudem eine bekam, die auch ein Glück in der unmittelbaren Umgebung als möglich ansieht.
- Die erste Strophe stammt im Roman von der Hauptfigur, diesem Wilhelm, dessen Bildungsweg im Roman erzählt wird.
- Er selbst trägt diese Strophe von einem Blatt aus vor,
- andere singen mit.
- Für uns interessant wird es später, wenn Lenardo am Ende eines gemeinsamen Essens ein Zeichen gibt und zwei Sänger auftreten, die zunächst das schon bekannte Lied der später ersten Strophe vortragen.
- Dann aber heißt es:
"Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gefällig mäßigen Chor begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere Sänger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankömmlings aber sich also vernehmen ließen:
'Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!'"
Darauf folgt dann Folgendes:
"Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei Gewandtheit der Sänger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, dass es unserm Freunde wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle völlig gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das öftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Bande selbst gefährlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit freundlichen Worten: 'Zwar kann ich euch nicht tadeln, dass ihr euch das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenwärtigt, um zu demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensmüde, bejahrte Männer den Ihrigen zugerufen: 'Gedenke zu sterben!', so dürfen wir lebenslustige jüngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit den heitern Worten: 'Gedenke zu wandern!'; dabei ist aber wohlgetan, mit Maß und Heiterkeit dessen zu erwähnen, was man entweder willig unternimmt, oder wozu man sich genötigt glaubt. Ihr wisst am besten, was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in erfreulichen, aufmunternden Tönen zu genießen, worauf denn dieses Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!' Er leerte sodann seinen Becher und setzte sich nieder; die vier Sänger standen sogleich auf und begannen in abgeleiteten, sich anschließenden Tönen:
'Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los:
Dass wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.'"
Man sieht also hier deutlich, dass es um Menschen geht, die in eine ungewisse Zukunft aufbrechen, zunächst guten Mutes sind, dann aber auch Bedenken bekommen. Und hier ist es eine starke Figur, die die Notwendigkeit sieht, wieder zu positivem Denken zurückzukehren und dafür sorgt, dass das Lied entsprechend endet.