Zunächst die Lösung der letzten Aufgabe: Rhetorische Mittel von Wels, ab Zeile 301. Ab Zeile 31 versucht Wels zu beschwichtigen, indem er um Verständnis für die Ableh-nung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD wirbt.
2. Die Begründung ist dann nach dem Prinzip der Steigerung aufgebaut: Zunächst das Wahlergebnis als Auftrag zum normalen Regieren, dann der Hinweis auf das Ungeheuer-liche, das in diesem Gesetzentwurf steckt, schließlich der Hinweis auf die damit verbun-dene „Allmacht“ der Regierung.
3. Ab Zeile 41 kommt eine Art Exkurs, jetzt geht es plötzlich um die Verteidigung gegen eine Anschuldigung – dabei ist eindeutig eine Klimax zu erkennen: „Wir haben weder in Paris um Intervention gebeten noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht.“ Steigerung: „Solchen Übertreibungen entgegenzutre-ten wäre leichter, wenn im In¬lande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen unterscheidet.“ Weitere Steigerung: „Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, dass die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei.“
4. In den Zeilen 61/62 nimmt Wels Zuflucht zu einem Bild, das zum einen Gegensatz ent-hält, zum anderen sehr deutlich macht, wie schwer die Sozialdemokraten es auch schon früher hatten: „Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getra-gen und sind dafür mit Steinen beworfen worden.“
5. Es folgt eine Art Parallelismus: „Unsere Leistungen...“, „Wir haben“, „Wir haben“ (63-65).
6. „Vergeblich wird der Versuch bleiben das Rad der Geschichte zurückzudrehen.“ – Hier verändert Wels die Satzstellung, um eine gewisse Feierlichkeit zu erreichen und das Wichtigste an den Anfang zu stellen. Unterstützt wird es durch die Verwendung eines allgemein geläufigen Bildes.
7. Pathos ab Zeile 75: „Wir deutschen Sozialdemokra¬ten bekennen uns in dieser geschicht-lichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“
8. Am Schluss dann noch einmal ein anaphorischer Parallelismus: „Wir grüßen die Verfolg-ten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich.“ Es folgt eine steigernde Rei-hung: „Ihre Standfestigkeit und Treue verdienen Bewun¬derung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“
Versuch einer nochmaligen Zusammenfassung
1. Insgesamt hat Wels vor allem auf eine geschickte Kombination von Beschwichtigung und Zugeständnissen einerseits und deutlichen Worten andererseits gesetzt.
2. Geschickt ist vor allem sein Umgang mit Zitaten. Auch die dienen der Beschwichtigung und versuchen, soweit möglich, Verständigung zu erreichen.
3. An wichtigen Stellen (wo Kritik notwendig ist oder es um die eigene Identität geht) be-nutzt er Parallelismen und Steigerungen – bis hin zu Pathos.
4. Erstaunlich selten greift er zu bildlichen Mitteln – wichtiger sind ihm sentenzhafte Wen-dungen und Wortspiele.
Nun zum Thema dieser Sequenz: Abschließende Einschätzung der Rede
Am Schluss der Analyse eines jeden Textes ist eine Stellungnahme wichtig – dabei muss man aber verschiedene Ebenen unterscheiden.
Sachurteile
Zum einen gibt es die Ebene des Sachurteils: Hier fällt man auf der Basis klarer Kriterien ein „sachliches“ Urteil über den Text: Zum Beispiel stellt man fest, dass ein Redner sich nur auf einen einzigen Punkt konzentriert, viele mögliche Einwände auslässt und an schwierigen Stellen in Pathos flüchtet. Hierüber kann es keinen großen Streit geben, weil es um Fakten geht, die man überprüfen kann.
Werturteile
Auf einer anderen Ebene liegen Werturteile, bei ihnen fließen, wie der Name schon sagt, „Werte“, also persönliche Überzeugungen ein. Im Falle der Wels-Rede werden hier die Posi-tionen wohl nicht sehr unterschiedlich sein: Man wird den Mut und die Geschicklichkeit von Wels bewundern, ihn wegen der Aussichtslosigkeit der Situation auch bemitleiden.
Größere Diskrepanzen wird es wohl geben, wenn es um Reden geht, die mehr im Tages-kampf der Meinungen angesiedelt sind. Wenn also zum Beispiel in einer Rede einer Schul-ministerin mehr Leistung von Schülern und Lehrern gefordert wird, dann kann bei der Stel-lungnahme neben sachlicher Kritik auch die grundsätzliche Frage gestellt werden, wie viel Selbständigkeit zum Beispiel Schülern und Schulen wirklich zugetraut wird – bis hin zum Mut zum Risiko. Ob man hier zum Beispiel grundsätzlich an das Gute bei Schülern und Leh-rern glaubt oder mehr meint, das Schlechte im Menschen müsse kontrolliert und eingegrenzt werden, das sind grundsätzliche Urteile, bei denen von Vor-Einstellungen, Grundüberzeu-gungen, Werten ausgegangen wird.
Aufgabe:
1. Nimm Stellung zu der Wels-Rede und achte dabei auf den Unterschied zwischen Sach- und Werturteilen.
Lösungshinweise gibt es auf der folgenden Seite – aber lieber erst mal selbst probieren!
Mögliche Lösung:1. Insgesamt hat Wels eine überaus geschickte Rede gehalten: Dadurch dass er von Ge-meinsamkeiten mit der Gegenseite ausging, hat er überhaupt erst einmal eine Atmosphä-re geschaffen, in der Zuhören möglich wird – auch wenn Hitler dann doch nicht wirklich zugehört hat, aber das lag ja nicht an Wels, sondern an seinem Gegner.
2. Sehr geschickt hat er dann die Überleitung gewählt von der Gemeinsamkeit hin zum Dis-sens – dieser ist auf unnachahmlich klare Weise formuliert worden. Deutlicher konnte man die Kritik am Ermächtigungsgesetz nicht formulieren.
3. Sehr gut hat er auch die Leistungen der eigenen Seite hervorgehoben und sie in Schutz genommen vor ungerechtfertigten Angriffen der anderen Seite.
4. Das einzige, was man ihm vorwerfen kann, ist, dass er letztlich Hitler falsch eingeschätzt hat, dass er geglaubt hat, es hier mit einem ganz normalen Politiker zu tun zu haben, der halt nur etwas zu radikal ist.
5. Wer eine solche Kritik übt, muss auch Alternativen aufzeigen: Vielleicht hätte Wels deutlicher auf die Verfälschung des Wahlergebnisses durch das Annullieren der KPD-Mandate hinweisen sollen, vielleicht auch deutlicher auf die Diktaturgefahren, die mit Hitler verbunden waren. In vielem ist die Rede schon recht resignativ.
6. Aber diese Kritik zu üben ist natürlich leicht, wenn man sieht, was daraus geworden ist.
7. Und damit komme ich zum Punkt der persönlichen Stellungnahme: Man kann vor Wels nur Achtung haben, dass da ein Mensch im Angesicht der Gewalt und des Terrors und ei-ner schon weithin braunen Umgebung den Mut aufbringt, überhaupt noch etwas gegen Hitler zu sagen und eine sachliche Rede zu halten. Nicht von ungefähr gilt diese Rede als eine der größten des 20. Jahrhunderts, ja vielleicht der ganzen Geschichte, weil hier ein einzelner Mann aufrecht gegen Unrecht und Gewalt angeht – bis hin zur Gefahr für das eigene Leben. Wer kann heute schon mit Sicherheit sagen, dass er in einer vergleichba-ren Situation genauso viel Mut aufbrächte.