Lessings "Emilia Galotti" als bürgerliches Trauerspiel und Werk der Aufklärung
Kurze Klärung vorab: Inwiefern handelt es sich bei Lessings "Emilia Galotti" um ein Werk der Aufklärung?
Das Stück gehört zur Aufklärung, weil es zeigt, wie ein Fürst und seine Helfershelfer ihre Macht missbrauchen.
Außerdem ist es ein bürgerliches Trauerspiel, in dem das Denken und fühlen der Bürger eine Rolle spielen, vor allem ihre Moral.
Zwar gehören die Figuren noch dem Adelsstand an, aber sie denken und fühlen eben schon wie Bürger.
Dabei geht es vor allem um Fragen der Moral. Man spricht auch von einem bürgerlichen Trauerspiel, und das Bürgertum ist die Macht, die zunehmend dass alte ständische System und das politische System des Absolutismus infragestellt.
Das geschieht in diesem Stück und das ist Aufklärung.
1. Worum geht es überhaupt? (Einleitung)
Lessing gilt nicht zu Unrecht als Hauptverfechter neuer Ideen, was die Bedeutung des Theaters und besonders der Tragödie angeht. Damit mischte er sich im 18. Jahrhundert in einen Jahrhunderte dauernden Streit um die richtige Auffassung der Grundgedanken ein, die Aristoteles im klassischen Griechenland entwickelt hatte.
Dessen Grundideen wurden dabei im Sinne des Bürgertums, das im Zeitalter der Aufklärung an Bedeutung gewann, verändert. Weiter unten werden wir die Auffassung Lessings näher erläutern.
Hauptziel hier ist aber zu klären, inwieweit Lessing seine theoretischen Einsichten und Thesen auch ganz praktisch in einem seiner zentralen Werke, der Tragödie „Emilia Galotti“ umgesetzt hat.
2. Was ist die Grundidee des bürgerlichen Trauerspiels?
Vor Lessing herrschte die Grundauffassung vor, zu einer richtigen Tragödie gehörten Personen von hohem Stande, die über eine ausreichende Fallhöhe verfügten.
Man glaubte also, die von Aristoteles geforderten Wirkungen des Theaters, nämlich das Auslösen von Furcht bzw. Schrecken und Mitleid, gebe es in hohem Maße nur, wenn zum Beispiel ein König zunächst in seinem Glück gezeigt wird und dieser dann abstürzt.
Lessing nun dachte in erster Linie an ein bürgerliches Publikum und war nicht mehr der Meinung, dieses könne vor allem auf dem Weg des Schreckens und der Furcht gebessert werden.
Er interpretierte die Furcht als „das auf uns selbst bezogene Mitleid“, d.h. die Angst, das, was den Bühnenfiguren zustößt, könne auch einem selbst geschehen.
Damit verbunden war auch eine andere Auffassung vom Mitleid, dieses war nicht mehr eher ein distanziertes Gefühl, das bald wieder verschwindet, sondern es wurde bei ihm zu einem echten „Mitleiden“, einer den ganzen Menschen, wenn nicht die ganze Menschheit umfassen-den „Empathie“. Gemeint ist damit, dass man wirklich mit dem anderen mitfühlt, weil man sich mit ihm auf einer Stufe stehend fühlt, ganz nah bei ihm ist.
Dieses möglichst lang andauernde Gefühl war Lessing deshalb so wichtig, weil er den Endzweck der Tragödie, nämlich die sogenannte „Katharsis“ nicht so sehr als „Reinigung“ von den Leidenschaften, also eine Art Ausgleich und Beruhigung verstand, sondern als „Verwandlung in tugendhafte Fertigkeiten“, also eine dauerhafte Besserung der sittlich-moralischen Haltung.
Ihm kommt es als Aufklärer vor allem auf Erziehung an mit dem Ziel, ein besseres Menschengeschlecht heranzubilden.
Vor diesem Hintergrund dürfte auch klar sein, dass es für Lessing weniger eine Rolle spielte, ob auf der Bühne wirkliche Bürger agierten, vielmehr sollten es Menschen sein wie du und ich – was die innere Haltung, das Denken und Fühlen angeht. Dabei kam es im wesentlichen auf die folgenden Elemente an, die deshalb auch zentral sind für die Frage, inwieweit ein Stück den Kriterien des Bürgerlichen Trauerspiels entspricht.
Mitmenschlichkeit
Vorrang des Privaten, zum Beispiel der Familie
Beachtung moralischer Prinzipien
Intensität der Gefühle
3. Klärung 1: Das Personal
Wenn man von der falschen Annahme ausgeht, das Bürgerliche Trauerspiel sei vor allem dadurch gekennzeichnet, dass auf der Bühne Bürger zu sehen sind, dann hat man bei Lessings Theaterstück „Emilia Galotti“ gleich ziemlich große Probleme.
Das beginnt schon mit der Familie Galotti selbst. Immerhin verfügt sie über zwei Häuser, Bedienstete, eine Kutsche, außerdem ist Odoardo ein hoher Offizier, was ihn weit von der Welt der einfachen Bürger entfernt, zu der zum Beispiel der Musiker Miller aus Schillers Drama „Kabale und Liebe“ gehört.
Aber es kommt noch schlimmer für unsere falsche Standes-Annahme: Denn zu der Gruppe, die in Opposition zur Welt des Hofes steht, gehört immerhin ein leibhaftiger Graf. Appiani gehört deshalb in ein Bürgerliches Trauerspiel, weil er denkt und fühlt wie ein Bürger. Dies zeigt sich vor allem daran, dass er sich mit seiner frisch angetrauten Gattin Emilia vom Hof in eine natür-liche Welt zurückziehen will (vgl. II,4).
Ja selbst der Prinz ist bis zur sechsten Szene des ersten Aktes nicht frei von bürgerlichem Den-ken und Fühlen: Er hat sich offensichtlich wirklich verliebt, wird ganz als privater Mensch ge-zeigt und ist zunächst großzügig. Nur die Frage der Moral bleibt ungeklärt, bis sich herausstellt, dass er in diesem Punkt nun wirklich nicht zum Bürgertum gehört. Er stellt skrupellos persönli-che Wünsche über Recht, Gesetz und Anstand.
4. Klärung 2: Das Denken
Halten wir noch einmal fest: Die Standeszugehörigkeit spielt beim Bürgerlichen Trauerspiel eine untergeordnete Rolle. Entscheidend sind das Denken und Fühlen der handelnden Personen.
Für alle drei Galottis stehen die Bedeutung des Privaten, der Gefühle, allerdings in den Schran-ken der Moral im Vordergrund, wenn auch die Mutter – allerdings aus dramaturgischen Grün-den (nur so lernen Emilia und der Prinz sich kennen!) Gründen – durchaus zumindest ein biss-chen Interesse an der Welt der Stadt und des Hofes zeigt (vgl. II,4).
Appiani ist zwar vom Stand her adlig, das merkt man aber in seinem praktischen Verhalten kaum (vgl. zum Beispiel den Beginn von II,7). Statt dessen verehrt er den sozial deutlich unter ihm stehenden Odoardo regelrecht, preist ihn enthusiastisch als „Muster aller männlichen Tu-gend“. Auch im anschließenden Gespräch mit der zukünftigen Schwiegermutter zeigt Appiani sich sehr empfindsam, wenn er seine Stimmung als „ungewöhnlich trübe und finster“ beschreibt.
Selbst der Prinz wird in den ersten Szenen nicht als wirklicher Herrscher gezeigt, sondern als Mensch in seinem Widerspruch, zwischen dem Hingerissensein von Emilia und dem Versuch, seinen Pflichten zumindest formal zu folgen und wenigstens nach außen die Maske der Autori-tät aufrechtzuerhalten. Besonders deutlich wird seine Gefühlsintensität in I,6, wo er sich sogar seinem Berater Marinelli in die Arme wirft vor Verzweiflung.
Dies ändert sich erst am Ende der Szene, als er Marinelli zu weitgehend freie Hand gewährt. Wenn man dies noch als zu entschuldigende Unbesonnenheit verstehen kann (vielleicht denkt er nicht daran, wozu sein Berater fähig ist), fällt spätestens ab I,8 ein sehr schräges Licht auf seine Moral, als er ganz nebenbei bereit ist, ein Todesurteil zu unterzeichnen – hier ist von Mit-gefühl und Mitmenschlichkeit keine Rede mehr, von bürgerlicher Pflichterfüllung ganz zu schweigen.
Die große Belastung für die Ideale des Bürgerlichen Trauerspiels ist sicher der eifersüchtig über seine Tochter wachende Odoardo. Nicht mal den Gang zur Kirche soll sie alleine machen. Zwar gibt ihm das weitere Geschehen Recht, was das Vorhandensein von Gefahren für die weibliche Unschuld angeht. Aber man muss sich doch sehr fragen, ob hier ein junger Mensch zur Selbständigkeit erzogen oder eher in Abhängigkeit gehalten wird. Zwar findet in V,7 alles andere als ein Ehrenmord statt, weil Emilia ja den Tod will und ihr Vater gewissermaßen nur einem Selbstmord zuvorkommt. Es bleibt aber ein schaler Beigeschmack, was die engen Mo-ralvorstellungen und ein zu geringes Suchen nach Alternativen angeht. Immerhin hat Emilia zunächst an Flucht gedacht.
5. Problem 1: Die Idee der Erziehung funktioniert nicht
Oben sprachen wir schon davon, dass Lessing das Mitleiden einsetzen will, um am Ende eine Verwandlung in „tugendhafte Fertigkeiten“ erreichen will.
Nun hat sich die Figur des Prinzen allerdings unter seinen Händen in eine Richtung entwickelt, bei der das Publikum nicht mehr mitgehen kann und will. Der Prinz fällt gewissermaßen aus der Zone des „Mitleidens“ heraus, stattdessen entwickelt sich zumindest beim bürgerlichen Publikum eher ein Gefühl des Abscheus, zumindest der Distanzierung.
Das beginnt schon in I,7, wo es um das Todesurteil geht, das der Prinz leichthin unterschreiben will, es setzt sich dann fort im Mitwirken an der Intrige und an der Art und Weise, wie er mit der angeblich so sehr geliebten Emilia umgeht.
Am Ende müsste heftige Anklage und fast vorrevolutionäres Verhalten stehen – wie in der an-tiken Vorlage, bei der es sogar zum Volksaufstand kommt. Hier aber richtet sich die Aggressi-on aus Frustration aber gegen die Opfer selbst. Letztlich fliehen sie aus dieser Welt, statt sich ihr zu stellen und sie zu verbessern.
6. Problem 2: Die bürgerlichen Helden sind kein reines Vorbild
Neben dem Problem der scheiternden Erziehung sind auch die Helden nicht in jeder Hinsicht so, dass man ihnen folgen kann.
Das beginnt schon bei dem Übervater Odoardo, wie wir weiter oben gesehen haben. Bei ihm kann man sich ja geradezu fragen, inwieweit er nicht im häuslichen Bereich selbst fast eine Art absolutistischer Alleinherrscher ist. Allerdings muss hier wohl die Veränderung zwischen der Ausgangssituation und der Schlussphase beachtet werden. Am Ende hat er ganz augenfällig nicht mehr alles in der Hand, erwägt verschiedene Möglichkeiten und der Tod seiner Tochter ist weniger Ergebnis seines Entschlusses als eine Folge gemeinsamen Denkens. Damit kommt dann aber wieder die Frage der – schon vor der Exposition des Dramas liegenden – Erziehung Emilias ins Spiel und damit wieder die Frage, ob es hier ausreichend um Entwicklung einer freien Persönlichkeit geht oder eher um Erziehung in einem festgelegten Normensystem.
Hier ist aber zu beachten, dass Emilia zwar am Anfang viel Schwachheit zeigt (nach der Be-gegnung mit dem Prinzen in der Kirche). Bezeichnend ist auch, dass sie schon von den Zeitge-nossen als recht schwach und passiv eingeschätzt wurde. Dies ändert sich aber im Laufe des Stückes. Während bei Odoardo eher im Laufe der Zeit weicher gezeichnet wird, zeigt Emilia immer mehr Stärke – wenn auch letztlich auf dem Weg der Flucht aus der Wirklichkeit.
7. Fazit und Ausblick
„Emilia Galotti“ beginnt als bürgerliches Trauerspiel, dessen Erziehungsidee zumindest im Hinblick auf den Fürsten scheitert.
Auch die Zuschauer werden zumindest nicht direkt erzogen, denn ihnen wird ja nur eine Flucht gezeigt.
Nicht unterschätzt werden darf natürlich eine unterschwellige und langfristige „Erziehung“, bei der viele Zuschauer die Konsequenz aus dem Geschehen zeigen, die Lessing als Theaterdichter nicht ziehen wollte oder konnte. Insgesamt zeigt das Stück schon zumindest das Ideal einer bürgerlichen Welt, die zwar nicht Bestand hat bzw. im Falle des Paares Emilia-Appiani gar nicht wirklich realisiet werden kann. Es mag durchaus in der Intention des Stückes liegen, die Menschen – fast schon im Brechtschen Sinne – selbst darauf kommen zu lassen, dass man an den Verhältnissen etwas ändern muss, wenn man solche Schicksale vermeiden und das Glück der Menschheit insgesamt befördern will.
Ob das dann zur Revolution wird oder aber auf dem langen Weg ständigen Fortschritts verwirklicht wird, bleibt den Zuschauern überlassen.
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