Wie versteht man ein Gedicht? Am Beispiel von Nora Bossong, "Standort"
Das erste ist immer, dass man sich vom Titel eines Gedichtes schon mal auf erste Ideen bringen lässt: "Standort" kann rein geografisch gemeint sein, aber auch im übertragenen Sinne als die Position, von der aus man eine bestimmte Perspektive einnimmt. https://www.lyrikline.org/de/gedichte/standort-4416
"Wir leben in einer Stadt ohne Fluss, es gibt / Grenzen hier nur aus Wind / oder Regenschauern." Das Lyrische Ich beschreibt zu Beginn tatsächlich den Ort, an dem es mit anderen zusammen lebt. Der "Fluss" wird hier als Teil von "Grenzen" verstanden - die gibt es hier nicht, allenfalls in flüchtigen Naturerscheinungen, die keinen groß behindern.
"Meine Schwester / ängstigt das nachts, doch es lässt sich / in unserem Haus nicht weinen, vielleicht / hülfe es ihr, vielleicht brächte es sie / um den Verstand." Dann wird ein Zusammenhang zur Schwester hergestellt, die anscheinend gerne eine Grenze wie den Fluss hätte. Aus irgendeinem Grunde gibt es "in unserem Haus" nicht die Möglichkeit des Weinens, was zumindest den Jammer etwas mildern könnte. Aber das Lyrische Ich sieht neben der Hilfe auch die Gefahr des Verrücktwerdens, wenn man sich auf seine Angst einließe.
"Es ist frostig / in ihrer Stimme. " Deshalb gibt es nur das Frostige in ihrer Stimme - die Gefühle sind heruntergekühlt worden.
"Ließen sich Entfernungen / ohne Fluss beschreiben, wären zum Wenigsten / die Ahnungen haltbar: Niemand / nähert sich unserem Haus und die Eltern / haben wir lang nicht gesehen." Jetzt wird noch einmal auf den Fluss zurückgegriffen: Er ist nicht nur eine mögliche Schutzwand, sondern mit seiner Hilfe könnte man auch Entfernungen klären, also die gesamte Lage, in der man sich befindet, auch im Hinblick auf einen möglichen Feind. Möglicherweise ist das so zu erklären, dass über den Fluss Nachrichten kämen, Leute berichten könnten - nach dem Motto: "Vor drei Tagen haben wir noch dies und das gesehen."
"Doch es gibt keinen Halt, diese Stadt ist / wie ein Schneerest im März." In einem neuen Bild geht es jetzt um den schlechten Zustand der Stadt, die wie Schnee im März dem Untergang, dem Verschwinden geweiht ist.
"Nur der Wind, / der den Regen in seine Form treibt, / deutet ein Ortsende an." Noch einmal wird auf ein Element des Anfangs zurückgegriffen - statt des Flusses, auf den alle Hoffnungen sich richten würden, hat man nur den flüchtigen Wind, der den Regen als ebenfalls Flüchtiges kurzzeitig in eine Form treibt - wie zum Beispiel einen am Himmel sichtbaren Regenschauer. Damit ergibt sich dann zumindest eine Ahnung einer Grenze, die natürlich keine Schutzbedeutung haben kann.
"Unser Haus bleibt / von Eis bedeckt und verschwunden." Am Ende geht es um den engeren Schutzraum in einer Stadt, nämlich das eigene Haus, das ist "von Eis bedeckt" und damit "verschwunden", also als Zufluchtsraum entweder nicht mehr greifbar - oder das Lyrische Ich und seine Schwester sind mit dem Haus unter dem Eis.
Insgesamt ein sehr rätselhaftes Gedicht, das allenfalls Schutzbedürftigkeit deutlich werden lässt, die in einem großen Rahmen nicht befriedigt werden kann, sondern nur im kleinen des Verschwindens, des sich Versteckens in einem Geschenk der Natur.
Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autorin das Lyrische Ich hat einfach Gefühle, Assoziationen, Einfälle ausdrücken lassen, die sich wenig auf eine klare Intention hin bündeln lassen. Zumindest an einer Stelle kann man auch kritisch nachfragen: Wieso ist diese Stadt "wie ein Schneerest im März" und es "gibt keinen Halt", wenn das Haus in der Stadt "von Eis bedeckt" ist? Nun könnte man am Ende eine Außensicht annehmen, bei der man außerhalb des schützenden Hauses ist, aber die Schwester ist doch anscheinend im Haus" - also: Fragen über Fragen. Es wäre interessant zu schauen, ob andere Gedichte der Autorin auch ähnlich gestaltet worden sind. Immerhin gehört sie sogar zum Präsidium des PEN, also des Schriftstellerverbandes, und kann wohl als anerkannte Autorin bezeichnet werden. Wenn man sich "Reglose Jagd" anschaut https://www.lyrikline.org/de/gedichte/reglose-jagd-4415 hat man ebenfalls den Eindruck einer gewissen Hermetik, also eines Lyrikansatzes, dem es nicht primär auf Verständlichkeit ankommt. Sehr viel klarer und auch berührender ist dann allerdings das Gedicht "Besuch". 'https://www.lyrikline.org/de/gedichte/besuch-4417
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