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Kiezdeutsch und seine Bedeutung

Das sog. "Kiezdeutsch" und seine Bedeutung für die Themen "Mehrsprachigkeit" und "Sprachwandel"


Im Folgenden wird gezeigt, wie man sich mit Hilfe zentraler Materialien einen Überblick verschaffen kann, der dann zum Beispiel für ein Referat oder für die Zusammenstellung von Prüfungswissen reicht.

Ausgangspunkt: Auswertung des Wikipedia-Artikels

Stand: 5.2.2019 - 09.00 Uhr
Wikipedia selbst dazu: "Diese Seite wurde zuletzt am 29. Januar 2019 um 17:21 Uhr bearbeitet."

  1. Allgemeines
    • Varietät der deutschen Sprache
    • vornehmlich Jugendlich in "urbanen Räumen", in dem sich viele mehrsprachige Sprecher befinden (vor allem auch mit Migrationshintergrund)
    • Ursprünglich Berlin-Kreuzberg, wo die Sprecher selbst den Begriff geprägt haben, Kiez bezeichnet dabei ein bestimmtes städtisches Umfeld in Berlin
    • Seit Mitte der 90er Jahre im öffentlichen Bewusstsein - und zwar als "multiethnische Jugendsprache"
    • maßgeblichen Anteil daran hat die Linguistin Heike Wiese
    • Alternativbezeichnungen: "Türkendeutsch", "Ghettodeutsch" und "Kanak Sprak", wobei der Begriff ganz gezielt aus dem Bereich negativer Konnotationen herausgeholt werden sollte, was aber nicht gelang; im Unterschied zum Kiezdeutsch waren hier auch nur Sprecher nichtdeutscher Herkunft im Blick

  2. Besonderheiten
    1. "Bloße Nominalgruppen": "Gehst du heute auch Viktoriapark" (weggelassen wird "zum")
    2. Neue Wortstellungen: "... aber jetzt isch hasse ihn." (wird im Artikel als "Verb-dritt-Stellung" bezeichnet, aber es geht wohl vor allem um eine Vereinfachung der Syntax, wie man sie auch aus Nebensätzen her kennt: "weil ich hasse ihn." Letztlich wird der Hauptsatz dabei in einfachster Form präsentiert.
    3. Entwicklung neuer Partikeln (Wörter, die nicht flektiert werden: Präpositionen, Konjunktionen, Adverbien): "Lassma Moritzplatz aussteigen": besonders interessant "Musstu Moritzplatz aussteigen", weil dabei eine aber auch mehrere Personen einbezogen werden können. Das heißt: Die grammatische Unterscheidung zwischen "da musst du" (2. Person Singular) und "da müsst ihr" (2. Person Plural) verschwindet.
    4. "So als Fokuspartikel": Das bedeutet, dass das Wort etwas im Satz besonders betont: "...also die Stadt ist nicht mein Dings so ... ich bin mehr so Naturtyp für Natur, Dorf. So im Grünen, das ist mein Ding."
    5. Neue Fremdwörter: Aus "Heritage-Sprachen" wie dem Türkischen oder Arabischen werden neue Fremdwörter integriert, sind also auf dem Weg zum Lehnwort. 
      • Beispiel: "Wallah wurde aus dem Arabischen entnommen und bedeutet so viel wie 'exakt', 'echt' oder aber auch 'Ich schwöre'".
        https://rp-online.de/kultur/kleines-lexikon-kiezdeutsch-hochdeutsch_iid-14347051#12
      • "Menschen, deren Eltern oder Großeltern zum Beispiel aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert sind, sprechen meist die Sprache der neuen Heimat besser als die ihrer Familie. In diesem Zusammenhang sprechen Fachleute von Heritage-Sprache und Mehrheitssprache. „Heritage stammt aus dem Englischen und heißt Erbe“, sagt Professorin Allen aus dem Fachbereich Sozialwissenschaften. „Mit dem Begriff bezeichnet man die Sprache, die zum kulturellen Erbe der Familie gehört, etwa weil die Eltern oder Großeltern ausgewandert sind.“ Bei der Mehrheitssprache handelt es sich im Gegensatz dazu um die Sprache, die in der neuen Heimat gesprochen wird."
        https://idw-online.de/de/news691990

  3. Bedeutung:
    1. Verwendung in informellen, sog. "Peer-Group"-Situationen, wenn man die Gemeinsamkeit betonten, eine gemeinsame Identität zeigen will.
    2. Kiezdeutsch ist stark kritisiert worden als "gebrochenes" oder fehlerhaftes Deutsch: Wikipedia dazu: "Sprachwissenschaftliche Untersuchungen konnten dies widerlegen[13]. Wie andere Varietäten des Deutschen ist auch Kiezdeutsch kein Zeichen für mangelnde Sprachkompetenzen, sondern lediglich ein Teil eines sprachlichen Repertoires, der gezielt in bestimmten informellen Alltagskontexten genutzt wird."
      https://dgfs.de/de/aktuelles/2012/erklaerung-der-dgfs-zu-sprachlichen-varianten.html
    3. Es gibt ein wissenschaftliches "Kietzdeutschkorpus", in dem entsprechende Gespräche gesammelt werden. Entstanden ist es von 2008-2015  und steht online zur Verfügung.
      http://kiezdeutschkorpus.de/de/
    4. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in anderen Ländern mit ähnlichen Phänomen: Im Dänischen z.B. mit einer Vereinheitlichung des Genusgebrauchs oder auch die Möglichkeit, mehr als ein Satzglied vor das Prädikat zu stellen.
    5. Es gibt eine vielfältige Forschung zum Kiezdeutsch, u.a. auch zum Einsatz im Deutschunterricht.
      http://www.kiezdeutsch.de/kiezdeutschimunterricht.html


Auswertung eines Artikels der "Bundeszentrale für politische Bildung": Heike Wiese, Kiezdeutsch - ein neuer Dialekt" (16.2.2010)

  • Zu finden ist der Text hier:
    http://www.bpb.de/apuz/32957/kiezdeutsch-ein-neuer-dialekt?p=all

  • Die Einleitung beschäftigt sich mit der Entstehungszeit als öffentliches Phänomen, mit Beispielen und endet in der These, die schon in der Überschrift zu finden ist.

  • Anschließend geht es um den Begriff und seine Alternativen, was ebenfalls ziemlich genau dem Wikipedia-Artikel entspricht.

  • Im Abschnitt "Wer spricht Kiezdeutsch" wird noch konkret benannt, wie die niederländische Variante heißt: "Straattaal" = Straßensprache.

  • Hervorgehoben wird angesichts der gemischten Sprechergruppe: "Kiezdeutsch ist (...)  nicht etwa ein Zeichen fehlender Integration 'ausländischer' Jugendlicher (...)  ist vielmehr ein Zeichen für eine besonders gelungene sprachliche Integration."
    Man merkt hier deutlich, dass Frau Wiese einen Integrationsbegriff verwendet, der eine wechselseitige Anpassung meint.

  • Als Besonderheit dieser Jugendsprache wird festgestellt: "Im Vergleich zu anderen Jugendsprachen finden wir in Kiezdeutsch aber eine besondere grammatische Dynamik, die durch die vielsprachigen Kompetenzen seiner Sprecher gestützt wird." Inwieweit es sich dabei möglicherweise um einen Rückbau von Komplexität handelt, der durchaus auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu erkennen ist, wird nicht thematisiert.

  • Was die Frage angeht: "Bedroht Kiezdeutsch das Deutsche" wird hervorgehoben, dass es "das Deutsche" so nicht gebe - vor diesem Hintergrund sei Kiezdeutsch "nur ein Teil des sprachlichen Repertoires von Jugendlichen: Kiezdeutsch wird unter Freunden gesprochen, aber nicht mit Eltern, Lehrern usw."
    Auch hier wird möglicherweise nicht genügend berücksichtigt, dass Kiezdeutsch möglicherweise Entwicklungen verstärkt die ganz allgemein die Norm auch der deutschen Standardsprache verändert. Siehe die dem Wikipedia-Artikel weiter oben entnommenen sprachlichen Besonderheiten, die zum Teil ja auch Trends entsprechen, die direkt mit Kiezdeutsch gar nichts zu tun haben.

  • Was den anschließend vorgetragenen Vergleich mit den Dialekten angeht, wird übersehen, wie schwer den Sprechern zum Teil der Übergang zum Hochdeutschen gefallen ist, als die Dialekte noch den vollen Grad einer Heritage-Sprache besaßen. Man fragt sich auch, ob die größeren Lernschwierigkeiten nach dem 6. Lebensjahr beim Erlernen einer Fremdsprache nicht auch beim Übergang von Dialekten zur Standardsprache auftauchten. Man wird abwarten müssen, ob so etwas wie Kiezdeutsch tatsächlich bei dem einen oder anderen Kind den Charakter einer Mutter- oder Vatersprache einnimmt. Insgesamt kann der Vergleich mit Dialekten, die eben gerade nicht in der Vollform eine fallweise verwendete Gruppensprache waren, nicht so ganz überzeugen.

  • Interessant ist der Erklärungsabbruch bei der Vorstellung grammatischer Phänomene: Da heißt es zu "Das ist mein Schule" einfach: "Die Unterschiede könnten zwar nahelegen, dass Kiezdeutsch so etwas wie eine grammatisch reduzierte Form des Standarddeutschen ist. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist." Das eben genannte Beispiel wird gleichgesetzt mit dem Übergang von "Hast du 'n Handy?" und damit einem allgemeinen Trend auch der Standardsprache zugeordnet. Dabei wird aber übersehen, dass Kiezdeutsch ein sehr plötzlicher Einbruch in eine Norm ist, während die anderen Veränderungen sich zum Teil über lange Zeiträume entwickelt haben.
  • Ähnliches gilt für den Vergleich von "Musstu" mit "Bitte" statt "(ich) bitte.
  • Im weiteren Verlauf wird dann die Haltestellen-Sprachvariante "Dann steigen Sie Mollstraße aus" gleichgesetzt mit "Lassma Viktoriapark gehen." Im ersten Fall ist mit "Mollstraße" gar nicht die Straße gemeint, sondern eben das Auftauchen des entsprechenden Haltestellenschildes, das hier gewissermaßen zitiert wird.
  • Besonders hier wird deutlich, dass der Artikel (und die dahinterstehenden Forschungen) einen stark deduktiven Charakter haben, also alles tun, um eine vorgefasste Hypothese zu belegen. 

  • Insgesamt kann man feststellen, dass der Wikipedia-Artikel in weiten Teilen eine verkürzte Wiedergabe von Thesen und Beispielen aus diesem Artikel darstellt.
  • Am Ende wird noch darauf verwiesen, dass bei Befragungen die Sprecher deutlich Kiezsprachenbeispiele im Unterschied zu Fehlern im Vergleich zur Standardsprache als Parallelnorm akzeptierten.

  • Am Ende wird dann plötzlich doch zugegeben, dass es ein Problem ist, wenn Jugendliche "neben dieser Jugendsprache nicht auch das Standarddeutsche beherrschen, das für ihre gesellschaftliche Teilhabe und ihr berufliches Fortkommen ja wesentlich ist." Also gibt es das von uns oben schon vermutete Problem doch.
  • Wieder voll auf der Ebene liebevoller Hoffnung ist dann die Begründung für entsprechende Förderprogramme: "Bei Jugendlichen, die mit Kiezdeutsch vertraut sind, kann sich Sprachförderung, die später in der Schule noch geleistet wird, die grammatische Innovativität dieses Dialekts zu Nutze machen, um über den Vergleich mit Kiezdeutsch Kompetenzen im Standarddeutschen zu fördern." Das dürfte nicht zum Beispiel den Erfahrungen einer jungen Schwäbin entsprechen, die in Hamburg als angehende Krankenschwester auf Hochdeutsch umsteigen musste. Im Germanistikstudium ist die Beherrschung solcher Sprachvarietäten dagegen sicher von Vorteil, wenn man denn die Standardsprache parallel dazu ausreichend beherrscht.

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