Im folgenden präsentieren wir zunächst einen Textabschnitt und dann erläuternde Anmerkungen dazu:
Der Geier
- Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort.
- Unklare, aber bedrohliche Situation,
- die sich auch noch verschärft.
- Seltsam die Passivität des Ich-Erzählers
- Seltsames Verhalten des Geiers, als fühle er sich auch bedroht und wolle wachsam sein
- Interessant auch die Kennzeichnung als "Arbeit"
- Es kam ein Herr vorüber, sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. „Ich bin ja wehrlos“, sagte ich, „er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen.“
- Dann die ganz sachlich beschriebene Möglichkeit von Hilfe
- die aber auch keine besondere Schnelligkeit entfaltet
- statt den Geier zu bekämpfen wird ein Gespräch begonnen
- Insgesamt eine unnormales Situationen
- Nicht ganz überzeugende Verteidigungsrede des Ich-Erzählers
- Vielleicht wieder mal eine Situation, dass die Probleme eher in der Vorstellung liegen als in der Realität
- Auch ganz sachliche Betrachtung des aktuellen Schadens.
- „Dass Sie sich so quälen lassen“, sagte der Herr, „ein Schuss und der Geier ist erledigt.“ „Ist das so?“ fragte ich, „und wollen Sie das besorgen?“ „Gern“, sagte der Herr, „ich muss nur nach Hause gehn und mein Gewehr holen. Können Sie noch eine halbe Stunde warten?“ „Das weiß ich nicht“, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: „Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall.“ „Gut“, sagte der Herr, „ich werde mich beeilen.“
- Verständliches Unverständnis des Herrn
- Mit Hinweis auf eine Möglichkeit, die bisher außer Betracht war
- Seltsame Antwort des Ich-Erzählers und verständliche Bitte, aber ohne Dringlichkeit
- Dazu passt der Hinweis auf die nötige Zeit von einer halben Stunde
- Was aber sehr unrealistisch erscheint
- Ebenso der Rest; andere Möglichkeiten - wie etwa eine gemeinsame Aktion - werden gar nicht ins Auge gefasst.
- Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Herrn wandern lassen. Jetzt sah ich, dass er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.
- Erstaunliches Verhalten des Geiers,
- Fabelartige Kommunikationssituation
- Sieht für sich eine verständliche Konsequenz der Beschleunigung
- Seltsame sachliche Beschreibung des eigenen Todes
- Noch seltsamere Befriedigung über den Tod auch des Angreifers
- Überhöhtes Bild des Blutmeeres
Weitere Anmerkungen:
- Bei Kafka gibt es in den Erzählungen immer wieder Situationen, in denen die eigene Qual so groß ist, dass man den Tod als Erlösung empfindet. Vergleichen könnte man hier die kurzen Erzählungen: "Poseidon" (wo der Meeresgott auf den Weltuntergang wartet) und "Das Stadtwappen" (wo man auf die die Stadt vernichtenden Faustschläge wartet), eventuell auch noch "Die Brücke" (wo eine Brücke Errettung aus sinnloser Existenz durch Einsturz findet).
- Ähnlichkeiten finden sich auch im Vergleich mit der Erzählung "Das Urteil", in der ein junger Mann zunächst von seinem Vater gequält und schließlich zum Tod verurteilt wird. Das nimmt der Sohn ganz offensichtlich an.