Infos und Materialien zum Thema "Fremdheit in literarischen Texten"
In Zeiten großer Migrationsbewegungen und des Zusammentreffens von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften, Identitäten und Heimatempfindungen kann es hilfreich sein, sich mit Hilfe von literarischen Texten über Probleme und Möglichkeiten bzw. Chancen zu verständigen.
Als erstes stellen wir Gedichte vor, die sich in einer Unterrichtsskizze von Qua-Lis-NRW finden. Zu finden ist die PDF-Datei
hier.
https://www.schulentwicklung.nrw.de/cms/upload/Faecher_Seiten/deutsch/Fremdheit_Lyrik_S_II.pdf
- Goethe, Wandrers Nachtlied:
Hier geht es um die Ruhe in der Natur am Abend bzw. zur Nacht hin, die dem Lyrischen Ich das Gefühl gibt, dass auch ihm solch eine Ruhe bevorsteht. Viel spricht dafür, dass es dabei nicht nur um die Nachruhe geht, sondern um die endgültige Ruhe im Tode. Das ist ja der Unterschied zwischen der "bewusstlosen" Natur, die auf dem Gesetz von Werden, Vergehen und wieder Werden unterliegt, während das menschliche Individuum sich einem endgültigen Ende gegenübersieht. Das wird in diesem Gedicht auf melancholische Art und Weise deutlich gemacht.
- Gino Chiellino, Heimat (1987)
Heimat wird hier nicht als etwas begriffen, was man einfach hinter sich lässt. Vielmehr ist sie "ein Teil der Entscheidung", d.h. "sie kommt mit". Ausgedrückt werden soll damit, dass die Heimat auch in der neuen Umgebung weiter wirkt.
- Zehra Cirak, "Doppelte Nationalitätsmoral" (1961)
Präsentiert werden unterschiedliche Reaktionen auf das Phänomen, dass man eine Identität hatte, zu der dann noch eine neue hinzukam. Verdeutlicht wird das am Beispiel von Socken und Schuhen in unterschiedlichen nationalen Färbungen. Die einen finden das alte Leben wärmer als das neue, andere dagegen konzentrieren sich auf die neue Doppelexistenz "auf heißem Boden", also mit Schwierigkeiten in der Umsetzung.
- Alev Tekinay, "Dazwischen" (2001)
Am Beispiel eines gepackten Koffers, den man dann doch nicht für eine wirkliche Heimreise nutzt, wird das Doppelgefühl von Menschen verdeutlicht, die zwischen zwei Heimaten leben. Deutlich wird, wie anstrengend und schwierig diese imaginäre lange Reise des Hin und Her ist.
- Nevfel Cumart, "Zwei Welten" (1996)
Das Lyrische Ich möchte eine Brücke sein. Das Problem ist nur, dass die eine Seite der Brücke noch nicht fest verankert ist, während die andere sich langsam ablöst. Dementsprechend droht die Gefahr, in der Mitte zwischen den Polen der zwei Welten zerrissen zu werden.
- Heinrich Heine, "Wo?" (1839/40)
Das Lyrische Ich fragt sich in diesem Gedicht der späten Romantik bzw. des Vormärz, "woeine des Wandermüden / Letzte Ruhestätte" sein wird. Es werden verschiedene Varianten angesprochen, die räumlich weit auseinanderliegen. Entscheidend ist aber, dass das Lyrische Ich an jedem Ort umgeben sein wird von dem gleichen "Gotteshimmel": "Und als Totenlampen schweben / Nachts die Sterne über mir." Letztlich wird der Einzelmensch hier in einem kosmischen bzw. transzendenten Rahmen gesehen - vor diesem Hintergrund verblasst alles, was im Leben trennen und Probleme bereiten kann.
- Mascha Kaléko: "Emigranten-Monolog" (1945)
Das Gedicht ist in der Sammlung nicht abgedruckt, aber zum Beispiel hier
zu finden.
Das Gedicht setzt ein mit einem Verweis auf den Flüchtling Heine, das wird dann in Beziehung gesetzt zu dem, was durch die Nationalsozialisten zerstört wurde. Es wird keine Chance gesehen, das wiederherstellen zu können. Am Ende ist da ein zerbrochenes Herz, das noch Heimweh spürt, aber nicht mehr weiß, wonach es sich sehnt.
- Carl Zuckmayer, Elegie von Abschied und Wiederkehr (1939)
Die erste Strophe sieht ein Wiedersehen mit der alten Heimat voraus, in dem man sie nicht mehr wiedererkennen wird - angesichts ihrer inneren und äußeren Zerstörung.
Die Natur wird äußerlich zwar noch dieselbe sein, aber im Kopf wird das Bild des eigenen Grabes sein.
Dementsprechend wird die Rückkehr in die Heimat schwierig werden - am Ende wird einem nur die Erinnerung bleiben.
- Bertolt Brecht, "Gedanken über die Dauer des Exils" (1937)
Das Gedicht beginnt mit Situationen, in denen deutlich wird, was es bedeutet, kein Zuhause mehr zu haben. So lohnt es sich nämlich nicht mehr, über vier Tage hinaus zu denken und zu planen.
Dem wird dann aber die Hoffnung doch auf Rückkehr, wenn auch nach Kampf, entgegengesetzt.
Am Ende wird deutlich, dass das Lyrische Ich gegen die scheinbare Vernunft gehandelt hat, indem es einen Kastanienbaum im Hof doch mit Wasser versorgt hat, ohne zu wissen, wie lange es noch von ihm profitiert.
- Hilde Domin, "Mit leichtem Gepäck" (1962)
Das Gedicht beginnt mit dem Appell, sich nicht an die gegenwärtige Situation zu gewöhnen - es geht nämlich nicht um das "Bleiben", das für andere Menschen ganz natürlich ist. Man muss auf Weggehen eingestellt sein, macht sich Hoffnungen, es kann aber auch das Grab warten.
Dargestellt werden die Ungewissheit und die sehr unterschiedlichen Aussichten.
- Nevfel Cumhart, "nach hause" (1996)
Beschrieben wird die Ankunft per Flugzeug in Berlin, wobei plötzlich das Gefühl aufkommt, "von zu hause / nach hause / gekommen zu sein." Dementsprechend besteht der Rest des Gedichtes aus dem Gefühl, dass der eigene Körper sich wie eine lange Brücke von der alten Heimat zur neuen erstreckt.
- Eichendorff, In der Fremde (siehe unten)
Das Lyrische Ich hört zwar immer noch etwas, weiß aber nicht mehr, wo es ist. Es fühlt sich einsam und entfernt von einer schönen, alten Zeit. Es kommen zwar Bilder der Vergangenheit hoch, aber die Realität ist weit entfernt. Am Ende dann die maximale Fremdheit, nämlich die Tatsache, dass die Liebste schon lange tot ist.
- Heine, "Nachtgedanken" (siehe unten)
Dieses berühmte Gedicht präsentiert zunächst die Sehnsucht nach der deutschen Heimat, die dann überwölbt wird von der wichtigeren Sehnsucht nach der Mutter - und schließlich völlig verschwindet angesichts der Ehefrau, die deutlich macht, dass Frankreich jetzt die aktuelle Heimat für den Emigranten ist.
Joseph von Eichendorff,
In der Fremde
Ich hör die Bächlein rauschen
Im Walde her und hin,
Im Walde in dem Rauschen
Ich weiß nicht, wo ich bin.
Die Nachtigallen schlagen
Hier in der Einsamkeit,
Als wollten sie was sagen
Von der alten, schönen Zeit.
Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh ich unter mir
Das Schloß im Tale liegen,
Und ist doch so weit von hier!
Als müßte in dem Garten,
Voll Rosen weiß und rot,
Meine Liebste auf mich warten,
Und ist doch lange tot.
Heinrich Heine
Nachtgedanken
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext.
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land!
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.
Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muss ich – Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist, als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!
Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.