Kritische Sicht auf den sog. "Fatalismusbrief" Büchners
Diese Seite stellt eine kritische Sicht auf Büchners sogenannten "Fatalismusbrief" vor und verweist am Ende noch auf einen kritischen Punkt der Kritik - also eine gute Basis für weitergehende Recherchen und Diskussionen
Hier zunächst die Informationen und Überlegungen zur schnellen Durchsicht.
Weiter unten dann eine PDF-Datei, die alles auf drei Seiten präsentiert, einschließlich des Briefes.
Auch Lehrer können irren!?!
Kritik eines Wissenschaftlers an der Verwendung des berühmten „Fatalismus“-Briefes Büchners
Büchner in der Schule – das heißt auch These von seinem „Fatalismus“ der Geschichte
Wer Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ in der Schule behandelt, kommt um die Frage des „Fatalismus“ nicht herum, also die Einstellung, dass das Leben und dann auch die Geschichte mehr oder weniger determiniert ist – und man das sich dabei ergebende Schicksal mehr oder weniger nur hinnehmen könne.
Büchner in der Wissenschaft – das heißt auch Burghard Dedners Kritik daran
Soweit die allgemeine Auffassung, was Büchners Grundhaltung in dieser Frage angeht.
Nun gibt es aber einen Wissenschaftler namens Burghard Dedner, der im Internet auf der Seite des sogenannten „Büchnerportals“ (immerhin verantwortet von der Büchnergesellschaft in Marburg) sich diesen Brief mal genauer angeschaut und ihn in die biografische Situation des Schriftstellers eingeordnet hat.
http://buechnerportal.de/aufsaetze/72-burghard-dedner-der-fatalismusbrief
Ein Wissenschaftler lobt die Klugheit eines Schülers im gutefrage.net
Was sehr ungewöhnlich ist: Dieser Wissenschaftler, immerhin ehemaliger Professor der Germanistik an der Uni Marburg, nimmt die Schüler ernst, die auf der Internetplattform gutefrage.net Fragen zu Schulthemen stellen und auf Antwort hoffen.
Um es vorwegzunehmen, er kommt zu dem Ergebnis, dass ein Schüler mit seiner Frage, wieso Büchner angeblich ein Fatalist war und kurz darauf mit dem „Hessischen Landboten“ einen richtigen Aufruf zur Revolution geschrieben hat, völlig recht hat.
Ermahnung der Deutschlehrer: Lasst Büchner endlich mit dem Fatalismus in Ruhe
Nach Meinung von Dedner sollten die Deutschlehrer endlich aufhören, Büchner die Haltung des Fatalismus unterzuschieben, nur weil er sich einmal in dieser Richtung in einem Brief geäußert hat.
Diese für Schüler sicherlich sehr sympathische Forderung begründet er wie folgt:
1. Das Liebesbrief-Argument
Der sogenannte „Fatalismusbrief“, wie er zum Beispiel auf einem Lehrerserver präsentiert wird
(https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2004/fb2/05_danton/04_b2/13_brief/)
ist in erster Linie, wenn nicht ausschließlich ein Liebesbrief. Der Dichter hatte sich kurz vorher in eine junge Frau in Straßburg verliebt und war jetzt weit weg von ihr, außerdem auch noch krank und nicht weit von Schwermut entfernt.
2. Das Revolutions-Argument
Außerdem bezieht sich die Textstelle
„Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“
nicht auf die Geschichte allgemein, sondern auf eine besondere revolutionäre Situation, in der Teile der Bevölkerung sich so bedroht fühlen, dass sie zu den äußersten Mitteln greifen, um ihre realen oder angeblichen Feinde auch ohne Prozess auszuschalten, sprich: umzubringen (sogenannte Septembermorde 1792).
3. Das Revolutionsführer-Argument
Außerdem bezieht dann Büchner diese Zwänge in seinem Drama „Dantons Tod“ auf die Revolutionsführer, er geht also nicht primär auf die Opfer oder gar die gesamte Bevölkerung ein.
4. Das Flugschrift-Argument
Am wichtigsten erscheint Dedner aber, dass eben Büchner wenige Wochen nach diesem Brief die Flugschrift „Der Hessische Landbote“ schrieb, in dem er die Bevölkerung davon überzeugen will, dass die ungerechten Verhältnisse nur durch eine Revolution bekämpft werden können. So ein Aufruf hat ja nun mit Fatalismus wirklich nichts zu tun, sondern sieht den Menschen als Subjekt seines Schicksals.
5. Das Entwicklungs-Argument
Außerdem verweist Dedner darauf, dass Büchner als Naturwissenschaftler an eine Höherentwicklung des Lebens und auch der Menschen glaubte, was ja eher auf eine positive Grundhaltung hinausläuft.
6. Das Idealismus-Argument
Außerdem präsentiert Dedner eine Situation, in der Büchner sich sogar für das Ideal der Religion ausgesprochen hat, nur akzeptierte, dass ihre speziellen Erscheinungsformen auch verlorengehen können
7. Das Optimismus-Argument
Zusammenfassend zitiert Dedner den englischen Literaturwissenschaftler Michael Perraudin, der Büchners Werk durch „Empathie und revolutionären Optimismus“ charakterisiert sieht.
8. Das Julian-Schmidt-Argument
Eine große Rolle beim Verständnis Büchners bis heute habe Julian Schmidt gespielt, ein konservativer Publizist, der sich empört über die revolutionären Bestrebungen des jungen Autors zeigte. Jemand, der so klar die Verbrechen einer Revolution beschrieben habe, dürfe doch nicht zu ihr aufrufen.
9. Zusammenfassung der Argumente
Um die Ausführungen Dedners noch einmal kurz zusammenzufassen: Er ist der Meinung, dass Büchner um 1834 eher ein Revolutionär war, der allerdings auch die Gefahren in ihrem Verlauf sah. Der Fatalismusbrief ist für ihn ein Liebesbrief, in dem ein junger Mann seiner Verlobten, die lange auf Nachricht von ihm gewartet hat, erklärt, was ihn vom Schreiben abgehalten hat: Zum einen seine Krankheit, zum anderen sein Entsetzen über die Abläufe und blutigen Exzesse der Französischen Revolution, mit denen er sich gerade beschäftigte.
10. Abschließende kritische Frage wegen der Grundaussage von „Dantons Tod“
Es bleibt aber die kritische Frage, wieso Büchner ein Revolutionsoptimist gewesen sein soll, wenn er in „Dantons Tod“ nicht nur die Schrecken der Revolution, sondern auch eher ihre negativen Ergebnisse eindringlich präsentiert. Da wäre es doch sinnvoller gewesen, Danton zwar sterben zu lassen, dann aber darauf hinzuweisen, dass die gemäßigte Aufassung von der Revolution sich später eher durchgesetzt hat als die radikale von Robespierre mit seinem Tugendterror.
Ausschnitt aus einem Brief Büchners an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé in Straßburg
[Gießen, nach dem 10. März 1834.]
Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei ist. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohe Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich. Bei uns ist Frühling, ich kann deinen Veilchenstrauß immer ersetzen, er ist unsterblich wie der Lama. Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt Straßburg? es geht dort allerlei vor, und du sagst kein Wort davon. Je baise les petites mains, en goûtant les souvenirs doux de Strasbourg. - "Prouve-moi que tu m'aimes encore beaucoup en me donnant bientôt des nouvelles." Und ich ließ dich warten! Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muss ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muss ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen! B. wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich schrieb ihm. Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsternis wogte über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht einmal die Wollust des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. Ostern ist noch mein einziger Trost; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und die Erlaubnis, sie zu besuchen. Ich habe die Reise schon tausendmal gemacht und werde nicht müde. – Du frägst mich: sehnst du dich nach mir? Nennst du's Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur noch das Gefühl seines Elends hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen so kalt?
[…] – Dieser Brief ist ein Charivari : ich tröste dich mit einem anderen.
Charivari = Katzenmusik
Die französischen Passagen übersetzt Dedner wie folgt:
„Indem ich die süßen Erinnerungen an Straßburg genieße, küsse ich die kleinen Hände. Beweise mir, dass Du mich noch sehr lieb hast. Lass mir baldigst eine Nachricht zukommen.“
http://buechnerportal.de/aufsaetze/72-burghard-dedner-der-fatalismusbrief