Hinter einem in seiner vollen Blütenpracht ausgebreiteten Apfelbaum erhob eine gerade Tanne ihren spitzen dunklen Gipfel. Zu dieser sprach jener: "Siehe die Tausende meiner schönen muntern Blüten, die mich ganz bedecken. Was hast du dagegen aufzuweisen? Schwarzgrüne Nadeln!"
"Wohl wahr," erwiderte die Tanne," aber wenn der Winter kommt, wirst du entlaubt dastehn; ich aber werde sein, was ich jetzt bin."
Anmerkungen zum Text von Schopenhauer:
Es handelt sich um ein Gleichnis oder auch eine Parabel, je nachdem, wie sehr man anerkennt, dass hier zumindest ein bisschen erzählt wird.
Ein Gleichnis ist - wie der Name schon sagt - ein Phänomen der Wirklichkeit, das zur Erklärung von etwas herangezogen wird: Das Gleichnis vom Senfkorn aus dem Neuen Testament geht vom Wachstum des Senkorns bis hin zu einem großen Senfbaum aus, um zu zeigen, wie das Reich Gottes sich nach Meinung von Jesus aus kleinsten Anfängen zu etwas Großem entwickelt.
Eine Parabel dagegen ist eine Geschichte, die erzählt wird, um etwas zu verdeutlichen: Das angebliche "Gleichnis vom verlorenen Sohn" ist wegen der recht umfangreichen Handlung demnach streng genommen eine Gleichniserzählung, also eine Parabel.
Diese kleine Parabel hat natürlich viel Ähnlichkeit mit der Fabel, nur dass es hier um Pflanzen geht und nicht um Tiere.
Die Parabel beginnt mit einer Situationsbeschreibung, die den Gegensatz zwischen der üppigen Schönheit eines Apfelbaums und der demgegenüber recht kargen Pracht einer Tanne.
Es folgt die Herausforderung durch den Apfelbaum, der anerkannt haben möchte, dass er die schönere Pflanze ist.
Die Tanne erkennt das an, verweist aber auf die Zukunft, die die besondere Schönheit des Apfelbaums verschwinden lässt, während sie ihre zwar geringere, aber dauerhafte Schönheit behält.
Die Intention der Parabel ist zu zeigen, dass man Urteile nicht nur vor dem Hintergrund des aktuellen Zustandes fällen sollte, sondern auch darüber hinausgehende Aspekte wie die Zukunft bzw. die Dauerhaftigkeit einbeziehen sollte.
An dieser Stelle fällt dem Leser möglicherweise auf (interessante Aufgabe in der Schule!!!), dass der Apfelbaum gut kontern könnte, indem er sagt: "Meine liebe Tanne, auch du hast Recht, allerdings ändert das nichts daran, dass ich über eine Schönheit verfüge, die du nicht hast - auch wenn sie nicht das ganze Jahr über zu sehen ist.
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