Stimmt die These der Autorin vom "Versäumnis" in der Erzählung "Sommerhaus, später"?
In diesem Video setzen wir uns mit den nachträglich gemachten Anmerkungen der Autorin zu ihrer Erzählung auseinander. Zum einen werden damit die Leser möglicherweise beeinflusst, zum anderen können Autoren eben auch irren - sogar beim Verständnis eines selbst geschriebenen Textes.
Zunächst das Video mit der zugehörigen Dokumentation.
Weiter unten dann ein ausführliches Beispiel für die Erörterung der Frage des Versäumnisses, wie sie sich ein Lehrer in einer Klausur von seinen Schülern vielleicht wünscht ;-)
Beispiel für die Erörterung der Frage des "Versäumnisses" in einer Klausur
Erörtern Sie, inwieweit es sich beim Scheitern der Beziehung um ein „Versäumnis“ handelt und die damit verbundene These Judith Hermanns überzeugen kann, „man hätte versuchen sollen, zusammen zu leben.“.
Im Gegensatz zu der These von Judith Hermann spricht fast alles dagegen, dass es sich hier um ein „Versäumnis“ handelt.
Denn schon der Anfang der Beziehung (die von der Ich-Erzählerin selbst nicht einmal so eingeschätzt wird) ist lustlos, ohne Begeisterung.
Überhaupt nicht zum „Versäumnis“ passend ist, dass sie nach drei Wochen von dem angeblichen Traumpartner genug hat und ihn rauswirft – was der klaglos akzeptiert, als wäre das nur eine Atempause in seinem Leben als Nomade gewesen.
Als Stein dann anruft, ist das Gespräch voller Distanz – man hat den Eindruck, dass das Mitfahren nur wegen des Drucks erfolgt, auf den Stein später, als es ernst wird mit der Entscheidung wohl aus guten Gründen verzichtet. Denn wer will einen Partner, den man ständige zum Liebes-Jagen tragen muss.
Große Differenzen zeigen sich auch bei der 80000 Mark-Frage, wo die Ich-Erzählerin sehr viel realistischer ist als der romantische Stein, der dann auch recht heftig reagiert und sie erfolgreich zum Schweigen bringt.
Interessant, woran die Ich-Erzählerin auf der Fahrt zum Haus rückblickend denkt: an „Euphorie“, die bezieht sich auf Stein, an „Gleichgültigkeit“, das ist vor allem ihr Ding – und an „Fremdheit“, mehr ist über diese angeblich chancenreiche Beziehung nicht zu sagen.
Hinzugefügt werden sollte noch, dass das noch intensivere Aufflammen von Euphorie bei Stein im Rahmen der Hausbesichtigung bei der Ich-Erzählerin regelrecht Ängste auslöst, so dass sie sich nach Schutz ihrer Clique vor diesem Mann sehnt. Spätestens hier wundert man sich nicht, dass Frau Hermann bei ihrer Stein-Helden-Eloge die Ich-Erzählerin als doch wohl notwendigen Bestandteil gemeinsamen Liebesglücks vollständig ausblendet.
Das Maß voll ist dann, als das Kind der Ich-Erzählerin unterschwellig klar macht, dass ein Leben mit Stein in diesem Haus die Übernahme von Verantwortung bedeutet, was ihr offensichtlich völlig gegen den Strich geht, ja sogar Ekel auslöst.
Der Ausgewogenheit halber sollte man noch auf ein paar Stellen hinweisen, die das bisher eindeutige Bild etwas schwankend machen: Da ist einmal ihr Gefühl, ein Anfang zu sein – aber das kann sich nur auf Stein beziehen. Dann lässt sie sich tatsächlich dazu herab, die Fahrt zum Haus als schön zu bezeichnen – auch das Haus selbst bekommt kurzzeitig das Attribut. Aber im Vordergrund steht, dass sie Stein ein bisschen versteht, aber das Gefühl hat, noch nicht so weit zu sein.
Und damit wären wir bei der Frage, die Frau Hermann für die Ich-Erzählerin überhaupt nicht beantwortet, wie nämlich die Nutzung der Möglichkeiten zu werten ist. Für Stein mag es wirklich so sein, wie die Autorin am Ende hinzufabuliert. Genausogut kann er aber auch endgültig die Nase voll haben von Frauen, die ihn nur dazu bringen, 80000 Mark zu verbrennen.
Bei der Ich-Erzählerin gibt es in der Erzählung nicht die geringsten Anzeichen für eine positive Weiterentwicklung in Richtung Erwachsenwerden. Sie ist weitgehend passiv, kann höchstens mitgerissen werden – und wenn das nicht mehr so geschieht wie beim Telefonanruf, dann legt sie eben die Überbleibsel von Steins Projekt in eine Schublade – und es ist keine Rede davon, dass sie sie bei jedem Jahrestag wehmütig wieder aufmacht und in Tränen ausbricht angesichts der verpassten Chance.
Frau Hermann sollte doch vielleicht ein bisschen deutlicher unterscheiden zwischen dem, was sie schreibt, und dem, was sie sich wünscht. In der Literatur zählt nur das erste. Vom zweiten sollten Autoren ihre Leser verschonen, denn es gibt genügend Leute, die ihnen mehr Interpretationskompetenz zusprechen als dem Text und dann sich selbst. Das erinnert fatal an die längst überholte Frage: „Was wollte der Dichter uns damit sagen.“ Er hat gesprochen – nur der literarische Text zählt – und damit basta.
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