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Lenz, "Wie bei Gogol"


Siegfried Lenz, "Wie bei Gogol"

Diese Kurzgeschichte behandelt auf recht originelle Weise die Folgen eines Autounfalls, bei dem ein - so hießen sie damals - türkischer "Gastarbeiter" verletzt wird, der in schwierigen sozialen Verhältnissen in Deutschland lebt. Eingearbeitet sind philosophische Überlegungen zur Einmaligkeit bzw. Besonderheit von Ereignissen. Ein Kollege des Ich-Erzählers behauptet nämlich, alles, "was uns vorkommt oder zustößt, sei bereits anderen vorgekommen oder zugestoßen, die Bandbreite unserer Erlebnisse und Konflikte sei ein für allemal erschöpft, selbst in einer seltenen Lage dürfe man nichtmehr als einen zweiten Aufguß sehen." Später verweist er dann als Beweis auf den russischen Dichter Gogol.

In Wikipedia kann man dazu folgenden Hinweis finden:
"Die Anspielung wird von Siegfried Lenz nicht geklärt, gilt aber wahrscheinlich der berühmten Erzählung Newski-Prospekt. In Gogols Text bändelt der russische Leutnant Pirogow mit der Frau eines deutschen Schlossermeisters an, wodurch er mit ihrem Mann und mit der Welt der deutschen Gastarbeiter in Sankt Petersburg in Berührung kommt."
https://de.wikipedia.org/wiki/Wie_bei_Gogol

Zu finden ist die Kurzgeschichte u.a. in:
Schlaglichter. Zwei Dutzend Kurzgeschichten, mit Materialien, zusammengestellt von Herbert Schnierle-Lutz, Ernst Klett Verlag: Stuttgart, Leipzig 2008/2015, S. 17-26
ISBN: 978-3-12-262731-7

Anmerkungen zu der Kurzgeschichte "Wie bei Gogol" von Siegfried Lenz:
  1. Die Geschichte steigt nicht nur inhaltlich unvermittelt ins Geschehen ein, sondern auch sprachlich, wenn es heißt: "Dabei kenne ich diesen Umschlagplatz seit Jahren." (17-21)

  2. Anschließend geht der ich Erzähler genauer auf diesen besonderen Verkehrsknotenpunkt ein, bei dem man immer auf "unerwartete Begegnung" (18,5/6)" mit "plötzlich ausscherenden Einzelgängern" (18,6/7) oder "Quertreibern" (18,7) gefasst sein muss und und wo er selbst "ein Teil ihrer Rücksichtslosigkeit" (18,13) gewesen war.

  3. Wichtig erscheinen ihm nachträgliche Reflexionen, die seine Vorsicht beim Umgang mit möglichen Unfallsituationen beschreiben, nachdem er nicht mehr mit dem Bus fährt, sondern sich ein erstes Auto zugelegt hat.  Offensichtlich ist ihm wichtig, dass er keine Schuld trägt, sondern der Unfall „aus statistischen Gründen unvermeidlich“ (18,16/17) gewesen sei.

  4. Ab Zeile 18,34 werden dann der Unfall und das glücklicherweise nur leicht verletzte Opfer beschrieben, das offensichtlich bei Rot über die Straße gegangen ist, um noch den Bus zu erreichen.

  5. Zum Problem wird es dann, dass sich der Ich-Erzähler sich mit dem Verletzten kaum verständigen kann, der nicht zu einem Arzt will, sondern ihm nur als Adresse die Liegnitzer Straße angibt.

  6. Während eines kurzen Aufenthaltes bei Taxifahren, wo der Ich-Erzähler Erkundigungen wegen der Straße einholt, verschwindet der Verletzte.

  7. Der Ich-Erzähler gibt aber nicht auf und meint in besagter Straße in einem Wohnwagen den Verletzten wiederzufinden, der ihn aber nicht zu erkennen scheint. Als er hartnäckig bleibt, wird ihm schließlich für die Behebung des Schadens am Auto eine gewisse Summe Geldes gegeben.

  8. Als Leser hat man hier den Eindruck, dass offensichtlich eine Verwechslung vorliegt, die Bewohner der Wohnwagensiedlung aber alles tun, um weitere, vor allem offizielle Nachforschungen (etwa der Versicherung) zu vermeiden.

  9.  Der nächste Abschnitt der Kurzgeschichte beschäftigt sich dann mit einer kurzen Begegnung im Lehrerzimmer, in dem ein Kollege sich die Geschichte erzählen lässt und dabei seine These betont, "nach der es keine Originalerlebnisse mehr gebe. Alles so behauptete er, was uns vorkommt oder zustößt, sei bereits anderen vorgekommen oder zugestoßen, die Bandbreite unsere Erlebnisse und Konflikte sei ein für alle mal erschöpft, selbst in einer seltenen Lage dürfe man nicht mehr als einen zweiten Aufguss sehen." ( 25, 19-24)

  10. Der Schluss der Geschichte besteht dann in der Hervorhebung des Besonderen dieser Geschichte durch den Erzähler, der dem Kollegen auf gar keinen Fall erzählen will, dass er noch einmal in die Liegnitzer Straße gefahren ist, um – wie sich herausstellte – zu viel gezahltes Geld zurück zu geben.

  11. Dort stößt er dann wieder auf eine Mauer des Unverständnisses, niemand will ihn gesehen haben, man will auch kein Geld haben. Ihm bleibt nichts anderes übrig als die Einsicht, dass er sich möglicherweise im Wohnwagen geirrt hat. Das zu viel gezahlte Geld lässt er einfach auf einem Klapptisch liegen.

  12. Insgesamt zeigt die Geschichte zum einen einen Erzähler, der eine fast schon übertriebene Vorsicht zeigt und auch sonst eher zu Unsicherheit neigt. Zum anderen werden die Schwierigkeiten von damals so genannten Gastarbeitern deutlich, die in schwierigen Verhältnissen leben und vor allem nicht in irgendeiner Weise auffallen wollen. In diesem Fall scheint es so zu sein, dass der Ich-Erzähler eine Entschädigung für den Unfall von den falschen Leuten bekommt, nur weil sie keinen Ärger wollen.

  13. Der Hinweis des Kollegen auf den russischen Schriftsteller Gogol, in dessen Werk angeblich schon ähnliche Ereignisse beschrieben wurden, ist wohl als besonderes künstlerisches Mittel zu sehen, um dem erzählten Einzelfall den Charakter des Exemplarischen zu geben.

  14. Ansonsten geht es noch allgemeiner um den Gegensatz zwischen einer Welt schon fast übertriebener Ordnung und Vorsicht und auf der anderen Seite prekären Verhältnissen, bei denen man auch bereit ist Opfer zu bringen, nur um seine Ruhe zu haben und nicht aufzufallen.


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