Zunächst die Lösung der Aufgabe der letzten Lektion:
1. Im Folgenden (25-30) geht Wels dann genauer auf die innenpolitischen Verhältnisse ein: Dabei nimmt er zunächst den Gedanken der „Volksgemeinschaft“ (25) auf, ein Begriff, der für Hitler eine große Rolle spielte. Aus ihm leitet er aber eine zentrale Forderung ab, die im außenpolitischen Teil der Rede schon erwähnt wurde: „gleiches Recht“ (26). Konkret nennt er den Bereich staatlicher Eingriffe: Er gesteht der Regierung durchaus das Recht zu strenger Ahndung von Gewalttaten und Übergriffen zu - hier spielt er auf den Terror der Nazis an, den er natürlich nicht billigt, er setzt sich nur mit der Begrün-dung auseinander, die Hitler dafür immer gegeben hat. Für ihn sind zwei Bedingungen, zwei Einschränkungen maßgebend: Zum einen muss die Regierung sich dabei „unpartei-isch“ verhalten (was Hitlers Regierung nicht tat, sie verfolgte nur die Linken!), zum an-deren dürfen die unterlegenen politischen Gegner nicht behandelt wären, als wären sie „vogelfrei“, d.h. rechtlos – und das waren sie ja als Opfer des Naziterrors. Der Schluss-satz ist dann schon eine Überleitung zum nächsten Gedanken, jetzt wird der Redner nämlich ganz deutlich und geht auf die Lage und Haltung der eigenen Partei ein.
2. Der Abschnitt von Zeile 31-40 ist der, der am meisten Substanz hat, was das parlamenta-rische Streitobjekt angeht: Zwar beginnt Wels mit einem Hinweis auf die Verfolgung auch der Sozialdemokraten, geht aber darauf nicht näher ein, sondern wendet sich ganz dem Ermächtigungsgesetz zu: Kern seiner Position ist: Wenn die Regierung die Mehr-heit hat, muss sie auch mit ihr, d.h. mit dem Parlament regieren. Das vorgelegte Gesetz dagegen beansprucht für die Regierung „Allmacht“ (39) – und das verstößt gegen demo-kratische Grundsätze. Ganz nebenbei wird noch ein weiterer kritischer Punkt erwähnt, nämlich die verlorengegangene Pressefreiheit.
3. Der nächste Abschnitt (41-48) ist wieder eine rhetorische Meisterleistung – und zwar auf dem Gebiet des Gedankengangs: Wels nimmt Vorwürfe gegen seine Partei auf, sie wür-de Deutschland im Ausland schlecht machen: Dagegen setzt er die Versicherung, dass dies falsch sei, dann aber kommt der Höhepunkt: Er tut so, als wolle er ganz im Sinne der Nazis gegen Übertreibungen und falsche Beschuldigungen angehen – und verweist ganz nebenbei auf eine zentrale Bedingung bzw. Voraussetzung, nämlich die „volle Rechtssi¬cherheit“ in Deutschland – das aber ist genau der neuralgische Punkt der Kritik und wird denn auch gleich zu einer kritischen Forderung verarbeitet.
4. Auf den Rest der Rede wollen wir hier nur ganz kurz eingehen: Der Abschnitt von Zeile 49-68 geht zunächst auf zentrale Begriffe ein, die Hitler für sich in Anspruch nimmt: „Revolution“ und „sozialistisch“. Noch einmal wird darauf hingewiesen, dass sie bei „sozialistischen“ Taten auf die Unterstützung der SPD zählen könnten, was das Ermäch-tigungsgesetz unnötig macht.
5. Außerdem wird eine Art Leistungsbilanz der SPD präsentiert und am Schluss mit der Spitze versehen, dass ja Hitler selbst, der aus kleinsten Verhältnissen kam, davon profi-tiert habe.
6. Die Zeilen 69-80 zeigen eine realistische Anerkennung der aktuellen Machtverhältnisse, aber auch ein Bekenntnis zu unveräußerlichen Werten der Verfassung – der Rest ist eine Überleitung zum Schluss, weil hier ausgehend von einem früheren Verfolgungsgesetz die Hoffnung formuliert wird, dass auch das aktuelle Ermächtigungsgesetz, das man wohl nicht meint verhindern zu können, die SPD nicht vernichten werde.
7. Die letzten drei Zeilen richten sich gar nicht mehr an die Parlamentarier und beziehen sich nicht mehr auf das konkrete Projekt, sondern es geht darum, allen „Verfolgten und Bedrängten“ (81) Mut zu machen, indem auf eine „hellere Zukunft“ (83) als Ergebnis ih-res Kampfes verwiesen wird.
Noch eine abschließende Anmerkung zu dieser Musterlösung: Im wesentlichen ging es um die Erläuterung des Inhalts. Auf die „Rhetorik“ ist insoweit schon eingegangen worden, als Strategie und Taktik des Gedankengangs und der Wortwahl schon – gewissermaßen „im Vorbeigehen“ analysiert worden sind. Ein genaueres Eingehen auf „rhetorische Verschöne-rungsmaßnahmen“ hätte hier nur gestört, darauf wird zusammenfassend weiter unten einge-gangen.
Nun zum Thema dieser Sequenz: Die Intentionalität der Rede
Ein Schlüsselbegriff beim Umgang mit Texten ist die so genannte „Intentionalität“, damit ist nicht in erster Linie die Absicht des Verfassers gemeint, auch wenn sie bei Reden natürlich meistens mit dem identisch ist, was hier wirklich gemeint ist: Intentionalität ist nämlich ei-gentlich das, worauf ein Text hinausläuft, seine Zielspannung gewissermaßen. Bei Reden wie gesagt ist diese Zielspannung des Textes meistens identisch mit der Zielrichtung, die der Autor verfolgt – von daher können wir es uns in diesem Falle ein bisschen leichter machen.
Am einfachsten findet man die Intentionalität eines Textes, indem man sich die Frage stellt, worauf läuft er hinaus? Was will (in diesem Falle) der Redner mit der Rede erreichen. Eine methodische Hilfe ist es, direkt von einem solchen Satzanfang auszugehen:
„Mit dieser Rede will der Redner ...“ und dann möglichst verschiedene Aspekte und Berei-che aufzulisten.
Ein bisschen aufpassen muss man, dass man Ziele nicht mit Mitteln verwechselt. Wir werden weiter unten noch auf zentrale Punkte wie „Aufwertung“, „Abwertung“ und „Verschleie-rung“ eingehen. Diese Begriffe klingen so, als wären es Ziele der Rede und gehören zur In-tentionalität. Natürlich ist das auch nicht ganz falsch, aber eigentlich sind es nur Zwischen-ziele, dahinter stecken noch ganz andere Absichten, die meistens etwas mit der Situation und der Gesamtstrategie des Sprechers zu tun haben.
Schauen wir uns im Falle der Wels-Rede einmal an, welche Ziele hier im Text sichtbar wer-den: Mit dieser Rede will der Redner
1. sich (und in gewisser Weise auch seine Partei) ganz offensichtlich zunächst als guter Deutscher darstellen,
2. die eigene Ehre bewahren – wenn man auch in schwierigen Zeiten lebt und sogar verfolgt wird,
3. den Staat (und hier den Regierungschef) an seine Pflicht zur Unparteilichkeit erinnern und damit im Rahmen des Möglichen Hitler auf Fehler seiner Politik aufmerksam ma-chen, vor allem, was die Verfolgung von Gegnern angeht (das geschieht weiter unten noch einmal),
4. die Position der SPD gegenüber dem Ermächtigungsgesetz deutlich machen
5. auf die entscheidende Problematik des Ermächtigungsgesetzes aufmerksam machen und damit vielleicht auch noch Nicht-SPD-Abgeordnete zur Ablehnung bewegen,
Unterbrechen wir das hier einmal: Du hast sicher gemerkt, dass wir bisher einfach die Rede durchgegangen sind und alles notiert haben, was nach Absicht aussah. Jetzt kommt es noch darauf an, das Ganze besser zu systematisieren, dies ist eher eine Stoffsammlung. Aber die ist auch schon sehr hilfreich, weil sie einen auf die möglichen Punkte aufmerksam macht.
Aufgabe:
Bitte diese Rede auf die gleiche Art und Weise zu Ende analysieren – dabei immer von Ab-schnitten ausgehen und alles notieren, was nach Absicht aussieht und zu unserer Eingangs-formel passt. Mit dieser Rede will der Redner ...
Dann solltest du mal versuchen, die ca. 10 Punkte, auf die man kommen kann, noch stärker zusammenzufassen und vielleicht auch noch besser zu ordnen. Je weniger Punkte am Ende übrig bleiben, desto mehr Klarheit herrscht.