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Vergleich: "Fabrikstraße" - "Morgens"

Vergleich der Gedichte "Fabrikstraße Tags" von Paul Zech und "Morgens" von Jakob van Hoddis

Verglichen wird das sehr industriekritische Gedicht "Fabrikstraße Tags" von Paul Zech mit dem Gedicht "Morgens" von Jakob van Hoddis, das ganz andere Akzente setzt.
Paul Zech

Fabrikstraße Tags

01: Nichts als Mauern. Ohne Gras und Glas
02: zieht die Straße den gescheckten Gurt
03: der Fassaden. Keine Bahnspur surrt.
04: Immer glänzt das Pflaster wassernass.

05: Streift ein Mensch dich, trifft sein Blick dich kalt
06: bis ins Mark; die harten Schritte haun
07: Feuer aus dem turmhoch steilen Zaun,
08: noch sein kurzer Atem wolkt geballt.

09: Keine Zuchthauszelle klemmt
10: so in Eis das Denken wie dies Gehn
11: zwischen Mauern, die nur sich besehn.

12: Trägst Du Purpur oder Büßerhemd -:
13: immer drückt mit riesigem Gewicht
14: Gottes Bannfluch: uhrenlose Schicht.

Jakob van Hoddis

Morgens

01: Ein starker Wind sprang empor.
02: Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore.
03: Schlägt an die Türme.
04: Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt.
05: Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge.
06: Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge.
07: Starker Wind über der bleichen Stadt.
08: Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom.
09: Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom.
10: Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehn.
11: Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn.
12: Glieder zur Liebe geschaffen.
13: Hin zur Maschine und mürrischem Mühn.
14: Sieh in das zärtliche Licht.
15: In der Bäume zärtliches Grün.
16: Horch! Die Spatzen schrein.
17: Und draußen auf wilderen Feldern
18: singen Lerchen.

Vergleich der beiden Gedichte - erste Ansätze
  1. Das linke Gedicht beginnt mit der Vorstellung einer leblosen, den Menschen ohne Ausweg einklemmenden Fabrikwelt. Das rechte Gedicht beginnt gleich mit einer starken Öffnung der Verhältnisse.
  2. Während die Menschen in der Fabrikstraße (Links) sich an diese Verhältnisse anpassen und genauso verschlossen sind, ohne Austausch und Kommunikation, gibt es bei van Hoddis  zumindest den interessierten Blick des lyrischen Ichs und die Annahme eines wilden, freien nächtlichen Liebeslebens bei den vorbeieilenden Mädchen.
  3. Überhaupt wird im Gedicht links eine geschlossene Innenwelt präsentiert, während rechts ein sehr viel weiterer Blick auf das Verhältnis von Natur und Stadt zu finden ist.
  4. Ein gemeinsamer Ansatz ist damit gegeben, dass links das Ergebnis von Entfremdung zwischen den Menschen gezeigt wird, während rechts zumindest bei den Frauen und Mädchen innere Distanz zur Arbeit angenommen wird.
  5. Statt der kritischen Reflexion der Gegebenheiten links gibt es rechts eher eine romantische Gegenwelt am Schluss.
  6. Dementsprechend ist auch das sprachliche Material bei Paul Zech eindeutig negativ, während sich bei van Hoddis negative Attribute ("eherne Ebene", "rußig", "über der bleichen Stadt", "am schmutzig fließenden Strom", und positive ("hellklingend", "geschmeidig", "goldne Engelpflüge", "Liebe", "das zärtliche Licht",  "zärtliches Grün", das bei Zech explizit fehlt, "singen Lerchen") gegenüberstehen.

Vorbereitung eines ausführlichen, aufgabenkonzentrieren Vergleichs - Interpretation des ersten Gedichtes ("Fabrikstraße Tags")
Interpretation "Fabrikstraße" herunterladen

Ein paar kurze Vorbemerkungen:

  • Wichtig beim Vergleich ist es, die Aufgabenstellung sorgfältig zu lesen. Es gibt nämlich zwei Möglichkeiten:
    • Möglichkeit 1: Man analysiert auch das zweite Gedicht ganz normal - und vergleicht erst dann. Das ist aber sehr zeitaufwändig, schließt auch zum Beispiel eine genaue Formanalyse auch des 2. Gedichtes ein. Da man diese Kompetenzen schon beim ersten Gedicht gezeigt hat, ist es nicht sehr sinnvoll, das Gleiche noch mal leisten zu müssen.
    • Möglichkeit 2: Man bekommt genau gesagt, woraufhin man die Gedichte vergleichen soll. Dann kann man sich darauf konzentrieren. Das ist die sehr viel praktischere Variante. Dann muss man das zweite Gedicht zwar auch verstanden haben - man kann sich aber von vornherein auf die genannten Vergleichsaspekte konzentrieren.
  • Genau so machen wir es hier.

Beispiel für einen anschließenden Vergleich:

Überleitung:
1.    Wenn man sich das Gedicht von van Hoddis ansieht, fällt als erstes auf, dass es sich ebenfalls auf eine Tageszeit bezieht, allerdings auf den Beginn des Tages – und es bleibt allgemeiner, bezieht sich nicht nur auf einen ganz speziellen Ort, nämlich eine Fabrikstraße.
2.    Als nächstes ist da der Gegensatz von Enge, ja Eingeschnürtsein im linken Gedicht, während das rechte gleich mit einem Aufbruch und einer Öffnung beginnt.

Positiver Einstieg bei van Hoddis

3.    Insgesamt wirkt das Gedicht von van Hoddis von Anfang an positiver. Während bei Zech „Gras und Glas“ und damit der Blick ins Weite fehlen, spielt die Natur im anderen Gedicht von Anfang eine große Rolle: Sie ist in Bewegung, bringt immer mehr Licht und klingt hell. Zum Positiven passt auch das Adjektiv „geschmeidig“ im Gegensatz zu den „Mauern“ (Fabrikstraße, 1) und dem „Gurt“ (Fabrikstraße, 2) der Fassaden. Den Höhepunkt erreicht die positive Naturschilderung in Vers 6, wo sogar „goldne Engelspflüge“ (6) am Himmel ihre Bahnen ziehen.

Die zunehmende Einmengung des Negativen
4.    Während die Mitte des Gedichts von Zech geprägt ist von der Mechanisierung der Kommunikation zwischen den Menschen, erscheinen sie bei van Hoddis erst mal nur indirekt, aber als solche, die die Natur belasten, die Morgensonne ist „rußig“ (5), „Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom“ (8).
5.    Später wird auch die Ursache dieser negativen Phänomene genannt, nämlich die „Maschine“ als Inbegriff der Industrialisierung, der man sich nur „mit mürrischem Mühn“ (13) nähert.

Religion als kraftloses Relikt
6.    Während die Religion bei Zech am Ende eine dominierende Rolle spielt, sogar von „Gottes Bannfluch“ (Fabrikstraße, 14) gesprochen wird, der den Menschen aus dem möglichen Paradies in eine „uhrenlose“ (Fabrikstraße,14), also endlose Schicht, in die Entfremdung drückt, tauchen religiöse Momente bei van Hoddis nur an ein bzw. zwei Stellen auf. Während die Natur Platz für „goldne Engelspflüge“ (6) hat, „klopfen die Glocken am verwitterten Dom“ (9), d.h. sie präsentieren nicht mehr ihren vollen Klang – und das Gotteshaus ist auch nicht mehr im besten Zustand. Außerdem tun die Glocken es „verdrossen“ (9), also genauso unlustig, wie später der Gang der Frauen zur Arbeit beschrieben wird. Die Religion ist ihr auf einem absteigenden Ast, hat keine Kraft mehr, Reste von ihr sind nur noch im natürlichen Himmel direkt über der Erde zu finden.

Das hohe Lied der vollen Menschlichkeit bei van Hoddis
7.    Der größte Gegensatz zwischen den Gedichten befindet sich aber im Schlussteil, in dem es um die Frauen geht, bei denen das Lyrische Ich vor allem „Glieder zur Liebe geschaffen“ (12) sieht. Zumindest in seiner Vorstellung erscheinen ihm diese Menschen „wild von der Nacht“ (11).
8.    Aus diesem Anblick und diesem Eindruck wird dann wirklich so etwas wie ein Hohes Lied der Zärtlichkeit, eng verbunden mit der Natur und der Konzentration auf die Lebewesen, die noch einfach sein können und nicht müssen. Während die „Spatzen schrein“ (16), „singen Lerchen“ (18) „draußen auf wilderen Feldern“ (17). D.h. sie tun stellvertretend das, wozu die Menschen in dieser Welt nicht kommen, woran sie sich aber orientieren sollten („Sieh“,14; „Horch“, 16)). Das geht aber nicht in der „bleichen Stadt“ (7), sondern nur draußen in der Natur.

Zusammenfassung
9.    Zech präsentiert einen Ausschnitt aus der Industriewelt, der nur negative Züge aufweist und sich sogar voll auf die Menschen auswirkt – sie werden Teil der öden Maschinenwelt. Das Kernproblem ist die Enge, das Eingeklemmtsein, das dem Menschen seine Existenz als denkendes Wesen nimmt. Demgegenüber sind im Gedicht von van Hoddis durchaus die negativen Folgen der Industrialisierung sichtbar, aber nur am Rande. Im Zentrum steht eine sehr lebendige, aufweckende und Beispiel gebende Natur, an der sich die Menschen orientieren könnten, so dass aus „mürrischem Mühn“ (13)wieder Singen wird.
Das ist aber nur in der Nacht oder draußen auf den Feldern möglich. Mehr als diese Impulse und Ausblicke gibt es nicht.

Die künstlerische Eigenart der Gedichte
10.    In Zechs Gedicht dominieren Bilder der Enge, des Eingeschlossenseins bis hin zur Unterdrückung. Bei van Hoddis gibt es von Anfang an Bewegung, Veränderung. Eine entscheidende Rolle spielt hier der personifizierte Wind – aber sogar „Dampfer und Kräne erwachen“ – allerdings „am schmutzig fließenden Strom.“(8)
11.    Entscheidend aber ist der Gegensatz zwischen der „bleichen Stadt“ (7), der „Morgensonne rußig“ (5)  und der schönen Welt am Schluss, die gekennzeichnet ist durch „das zärtliche Licht“ (14) und „zärtliches Grün“ (15) – im vollen Kontrast zur Einstiegszeile des Gedichtes von Zech. Dazu kommt die Einbeziehung der Tierwelt am Ende als Vorstufe auch zu Möglichkeiten des Menschen.
12.    Auf ein besonderes Mittel sei noch hingewiesen: In Vers 10 findet sich eine sehr offensiv wirkende Inversion, die die Frauen und das Sehen nach vorne rückt und das „du“ an die zweite Stelle. Die Trennung von „Weiber“ und „Mädchen“ ist in der künstlischen Trennung wirkungsvoller als in der normalen Satzstellung: „Du siehst Frauen und Männer mürrisch zur Arbeit gehn.“

Abschließende Stellungnahme zu den beiden Gedichten
13.    Besonders im Vergleich zu dem linken Gedicht wird deutlich, dass Expressionismus nicht immer nur von Weltende handeln muss und dass der neue Mensch nur als Ergebnis von Umsturz und Blut möglich ist. Positive Veränderungen sind auch möglich, wenn man dem Vorbild der Natur folgt und die Liebe nicht vergisst.

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Beispiel für den Gedankengang einer ausformulierten Schüler-Lösung

Vorstellung einer zweiten Lösung, die insgesamt knapper ist.
An ihr zeigen wir auch exemplarisch den Gedankengang der Lösung.
Das Besondere daran: Wir verbinden die Abfolge der Gedanken mit den Bezugsstellen in den beiden Gedichten. Die sind ja im Hinblick auf den Vergleichsaspekt "Wirklichkeitswahrnehmung" nicht völlig parallel aufgebaut.
Hier zunächst die zweite Variante - darunter die Auswertung in Richtung Gedankengang

Ausformulierte Fassung:

Wenn man die beiden Gedichte im Hinblick auf die Wirklichkeitswahrnehmung untersucht, fällt sofort die negative Ausgangssituation im linken Gedicht auf: Es handelt sich um eine öde Fabrikwelt, ohne Natur und Kontakt zur Außenwelt. Vorherrschend ist ein Gefühl von Eingeschnürtsein.
Das sieht im rechten Gedicht ganz anders aus: Hier herrscht von Anfang an die Natur, sie sorgt für Aufbruch und Öffnung.

Allerdings werden kurz darauf auch die negativen Auswirkungen des modernen Lebens, bsd. im Hinblick auf die Umwelt angesprochen. Allerdings wird das alles nur am Rande angesprochen.

Im linken Gedicht steht das Negative der Fabrikwelt nicht nur im Zentrum, sondern es wird am Ende auch noch zu einem Schicksal, das dem Menschen dasl Wichtigste, nämlich sein Denken, nimmt und außerdem keinen Ausweg eröffnet.

Das geht sogar so weit, dass das Schicksal des Menschen in einem religiösen Zusammenhang gesehen wird, wenn von „Gottes Bannfluch“ (14) gesprochen wird.

Während die Menschen sich im linken Gedicht nicht nur gegenseitig keine Hilfe sind, sondern die Bedrückung noch verstärken, sind Frauen und Mädchen im Gedicht zwar auch nur ungern zur Arbeit, aber sie stellen doch für das Lyrische Ich eine lebendige, liebende Alternative zur Fabrikwelt dar.
Daraus entsteht ein positiv appellativer Schluss, die Zärtlichkeit zumindest in der Natur zu sehen, auf die natürlich lebenden Tiere zu achten. Man hat den Eindruck, dass hier im Gegensatz zum linken Gedicht doch die Flucht in eine bessere Welt möglich ist. Im Unterschied zum linken Gedicht ist so etwas wie ein Gott oder die Religion kein Hindernis, deren Instrumente sind kraftlos geworden, religiöse Elemente werden sogar der Natur zugeordnet („goldne Engelspflüge“, 6).

Insgesamt zeigt der Vergleich der beiden Gedichte, dass die Welt und das Schicksal der Menschen in der Zeit des Expressionismus nicht nimmer nur negativ thematisiert wird. Allerdings muss man die Einschränkung machen, dass die positiven Beobachtungen und Ratschläge des Lyrischen Ichs eher von einer Außenposition kommen. Seine Liebes- und Zärtlichkeitsfantasien sind doch recht einseitig.

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