Schauen wir uns ein Beispiel an:
Rainer Maria Rilke
Spätherbst in Venedig
- Das ist noch leicht zu verstehen. Es werden ein Ort und eine Jahreszeit angegeben.
- Wir vergeben hier mal den Schwierigkeitsgrad 1/10, weil man wirklich nicht viel leisten muss, aber das mit Zeit und Ort sollte man schon erkennen.
Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
- Hier haben wir schon einen sehr hohen Schwierigkeitsgrad.
- Die Stadt als Köder, das versteht man noch, wenn man an die Touristenüberflutung denkt, die im Herbst abnimmt.
- Nur: Was bedeutet es, dass die Stadt "alle aufgetauchten Tage fängt"?
- Hier muss man alle Ängst ablegen, locker werden und sich einfach überlegen, was ein aufgetauchter Tag ist. Da kommt man bestimmt drauf, dass es sich um den Beginn des Tages und seine weitere Entwicklung handelt.
- Man kann also bei der Touristenhypothese bleiben.
- Allerdings muss man aufpassen, dass man nicht von heute auf frühere Zeiten zurückschließt.
Insgesamt würden wir hier von einem Schwierigkeitsgrad von 7/10 ausgehen.
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Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt
--- [Strophensprung]
der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
- Hier wird es gleich wieder hammerhart, weil "gläserne Paläste" mit "klingen" verbunden sind, die dann auch noch "deinen Blick" erreichen.
- Für die Interpretation wichtig ist, dass man sich erst mal nicht erschrecken lässt
- und dann überlegt, wieso das lyrische Ich die Paläste, die irgendwie gläsern sind, als spröder klingend empfindet.
- Es kann sich kaum um einen wirklichen Klang handeln, denn die Paläste liegen meist am Wasser. Es ist also allenfalls Wasserrauschen zu hören.
- Dann akzeptieren wir doch einfach mal, dass das lyrische Ich das, was es fühlt, nur so ausdrücken kann. Entscheidend ist das "spröder", weil es zum Titel der Situation passt.
- Auch der nächste Eindruck ist ja ungewöhnlich, wenn er Gärten mit Marionietten in Verbindung bringt. Das könnte aber funktionieren über entsprechende Pflanzen, zum Beispiel Blumen, die im Herbst tatsächlich sich ein bisschen hängen lassen.
- Interessant die Assoziation zu Marionetten, die vielleicht einfach damit zusammenhängt, dass dem lyrischen Ich in diesem Moment eben diese Art von Kunst in den Sinn kommt - und zwar in der Form, dass die Puppen gerade nicht gebraucht werden.
- Die entsprechenden Assoziationen können wohl nur so verstanden werden, dass sie vom Eindruck ausgehen, aber das wiedergeben, was sich im Inneren des lyrischen Ichs aufbaut an Gefühlen.
Aber vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf:
- Hier muss man natürlich erst einmal den Gegensatz ("Aber") aufnehmen. Und wenn man von dem aufsteigenden "Willen" ausgeht, ergibt sich genau dieser Zusammenhang zu dem Müde- herunter-Hängen, von dem eben die Rede war.
- Was die "alten Waldskelette" angeht, muss man in der Schule schon Schülern den Hinweis geben, dass Venedig eben auf Baumpfählen in der Lagune aufgebaut worden ist. Das muss man nicht wissen. Damit hätten wir auch einen wichtigen Hinweis, um mit Schwierigkeiten bei Gedichten klar zu kommen. Dann muss ich mir überlegen, was muss der normale Mensch in dem Alter wissen und wo braucht er entsprechende Hilfestellung. Denn nicht alles gehört zur Allgemeinbildung.
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als sollte über Nacht
der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
- Auch hier braucht man bei der Interpretation entsprechende Hilfen, sonst versteht man nicht, was Galeeren hier zu suchen haben und was in diesem Zusammenhang ein Arsenal ist.
- Das sind also Schwierigkeiten, die leicht zu beheben sind, die Schüler müssen dann nur noch das Ganze in den Zusammenhang einordnen und überlegen, was es bedeuten könnte.
- Wichtig ist zu erkennen, dass der Gegensatz hier jetzt in der Weise erweitert wird, dass Signalbündel sich mehr fühlt.
- Zum Willen kommt eben jetzt auch das Gefühl einer möglichen Verdoppelung.
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um schon die nächste Morgenluft zu teeren
mit einer Flotte, welche ruderschlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.
- Das Ende des Gedichtes ist im Vergleich zu dem, was vorher gekommen ist, relativ einfach zu verstehen. Hier wird einfach die Ausfahrt einer Flotte in früheren Zeiten gewissermaßen in die Gegenwart des lyrischen Ichs fantasiert.
- Aufrecht originelle Art und Weise wird dann der Teergeruch, den man eventuell auch noch erklären müsste, einbezogen.
- Schüler verstehen beziehungsweise verbinden mit Teer natürlich eher Straßenbau als Schiffsbau. Das muss auch wieder erklärt werden.