Auswertung einer Biografie: Rüdiger Safranskis Blick auf die Novelle "Der Goldne Topf"
Wir stellen hier eine sehr originelle Interpretation der Novelle "Der Goldne Topf" vor. Sie stammt aus der aus einer Biografie, die Rüdiger Safranski zu E.T.A. Hoffmann verfasst hat:
Rüdiger Safranski, E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantaste, Fischer Taschenbuch Verlag: Ffm 2000, 313-331
Das Folgende versteht sich als Versuch, Leser der Novelle zu motivieren, sich mit diesem Kapitel aus Safranskis Biografie näher zu beschäftigen. Das Buch ist auch als E-Book verfügbar.
Einstieg mit der Frage: Was treibt diesen Anselmus eigentlich so zur Eile?
313: Safranski beginnt mit der recht originellen Frage, warum Anselmus an diesem Himmelfahrtstag eigentlich rennt. Die Antwort verbindet er mit all den Pannen, die diesem jungen Mann immer wieder zustoßen. Anselmus achtet zu wenig auf sich, ist von daher immer ein Stück außer sich: "Der vergessene Körper aber bringt sich regelmäßig wieder in Erinnerung." (314) Etwas später heißt es: "Vielleicht ist er deshalb so gerannt, weil er vor sich selbst davonlief." (314)
Als nächstes wendet sich die Interpretation der Frage zu, welches Glück er eigentlich in diesem Linkeschen Bad sucht. Sehr schön wird anschließend herausgearbeitet, wie Anselmus sich ein Mädchen erobern will: "Anselmus will sich in jemand verwandeln, der die erfolgsversprechenden Regeln der erotischen Werbung beherrscht" (315) und dazu gehört auch der "leichte Weltton", eine gewisse Art der lockeren Ansprache.
Welcher Vorstellung von Liebe und Partnerschaft schließt Anselmus sich dann real an?
Anschließend gerät der Student aber in eine ganz andere Beziehung zu einem Wesen, "das den Jüngling zwar verliebt anblickt, aber doch keinen Körper zu haben scheint, jedenfalls keinen Frauenkörper." (315) Daraus zieht Safranski eine wichtige Konsequenz:
"Das Überraschende an Anselmus’ Träumen, sofern sie über das Revier des Linkeschen Bades hinausgehen, ist die Wunschzensur, die sich in ihnen manifestiert. Da gibt es kein Überschäumen. Die Kristallstimmen im Busch, das gleichsam freischwebende Augenpaar, die ins Niedliche verwandelten Schlänglein verraten eine außerordentlich stark gefilterte Sinnlichkeit.
Vergleicht man solche Wunschbilder mit den doch recht handfesten Lockungen der »hübsch geputzten« Veronika, die sich um Anselmus bemüht, so kann man von einer Art Erfüllungsscheu
sogar in den Wunschphantasien des jungen Mannes sprechen. Die körperliche Nähe macht ihm Angst. Vor dem Angebot ihrer Genüsse weicht er ins Imaginäre aus. Die Erfüllungsscheu vor der verkörperten Liebe treibt Anselmus in die Arme des Schlängleins Serpentina, die ihm in den Gemächern des Archivarius Lindhorst, ihres Vaters, zur Muse seiner poetischen Entrückung wird."
Hier wird sehr deutlich formuliert, was jeder Leser eigentlich sofort spüren müsste: Mit einer normalen Liebe hat diese Beziehung zwischen Anselmus und Serpentina nicht viel zu tun.
Was treibt die andere Seite, also Serpentina, an?
Anschließend wird der Grund dafür aus der Sicht der jungen Frau erklärt: Es geht darum, das zu vermeiden, was ihrem Vater, dem einstigen Erdgeist und jetzigen Archivar, passiert ist: Kaum näherte er sich als Salamander ernsthaft seiner geliebten Feuerlilie, da verwandelte sie sich und verschwand. Safranski sieht darin nichts anderes als die schon von Heine so eindringlich beschriebene "alte Geschichte" einer unerfüllten Liebe. (317)
Zwei unterschiedliche Probleme mit der Ehe
An Beispiel der Novelle "Signor Formica" und des Katers Murr werden zwei unterschiedliche Probleme in Beziehungen präsentiert, wie Hoffmann sie sieht. Dazu stellt Safranski zusammenfassend fest: "Man weiß oft nicht genau, ob Hoffmanns Helden vor der Geliebten zurückweichen, weil sie in der 'festen Beziehung' die Risiken der verzehrenden Unruhe oder die Risiken der lieblosen Ruhe scheuen, Ob sie also Angst vor dem Leben oder Angst vor dem Tod haben." (318).
Diese Ambivalenz sieht der Autor auch bei Anselmus im Hinblick auf eine Heirat Veronikas. Angesprochen wird zunächst das "wohldotierte Ehegefängnis" (318), das ihnn ängstigt, dann aber auch die Möglichkeit einer überaus liebevollen Untreue einer Gattin, mit deren Verehrern er nicht mithalten kann.
Die Entscheidung des Anselmus und ihr Gegenstück im "Meister Floh"
Angesichts dieser Perspektiven entscheidet sich Anselmus für die Beziehung zu Serpentina, in der er ein "Herold der körperlosen Liebe" (318) zu werden droht. Was ihm dabei angeboten wird, nämlich die "Muse der Poesie" (319) , ist dann nichts als die "erhabene Verklärung der Erfüllungsscheu eines verschüchterten, vor allem von Frauen eingeschüchterten jungen Mannes" (319).
Auch hier wieder bringt Safranski (übrigens ein großer Vorzug seiner Interpretation) das Beispiel eines anderen Werkes von Hoffmann. Im "Meister Floh" gibt es nämlich mit dem Peregrinus Typ einen ebenfalls "weiberscheuen Menschen" (319),, der sich dann allerdings doch für eine echte Partnerschaft entscheidet.
In der Flucht vor der menschlichen Wirklichkeit sieht Safranski ein echtes Defizit, das Hoffmann letztlich dadurch zum Ausdruck bringt, dass am Ende der Novelle der Erzähler zum "Stuntman" wird für "die riskante Aufgabe, vor der sich Anselmus drückt; Phantasie und Wirklichkeit miteinander zu verbinden." (320)
Das zentrale Thema der Verwandlung
Damit kommt die Interpretation zu ihrem entscheidenden Punkt, nämlich der "Kraft der Verwandlung, die für Hoffmann das Zentrum des Lebendigen ist." (320)
Diese Welt der Verwandlungen steht im Gegensatz zu den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft, die verlangt, "daß man 'immer derselbe bleibt', daß man als 'eingefleischter Philister' in 'demselben Geleise forttragt'" (320).
Man merkt spätestens an dieser Stelle, wieviel Substanz diese Novelle hat, wieviel sie deutlich macht im Hinblick auf die menschliche Existenz einerseits und die Anforderungen einer Gesellschaft, die vor allem auf das Funktionieren setzt.
Aber Safranski bleibt bei seiner Interpretationslinie, dass nicht nur das Beharren in der bürgerlichen Welt ein Problem ist. Auch "das Versinken im Wunderbaren, das die Brücken zur Realität abbricht, führt ins 'gläserne Gefängnis" (322), wie am Beispiel der Erzählung "Die Bergwerke zu Falun" gezeigt wird.
An dieser Stelle (ab 322) gibt es einen längeren sozial- oder auch kulturhistorischen Exkurs, in dem Safranski die Entwicklung europäischer Bürgerlichkeit aufzeigt, die die Abgründe im Menschen in eine erträgliche Form des Umgangs presst. Nur in der "Poesie, in der Kunst überhaupt, in den Festen, im Rausch" gibt es kleine offene Auswege für den inneren Druck.
Die Bedeutung echter Vielfalt im Sinne von "Polymethie"
Sehr interessant ist die Einbeziehung der Begriffe Monomythie und Polymythie (326f), weil sich an ihnen das Ausmaß von Freiheit und Autonomie des Menschen aufzeigen lässt. Nach dem Philosophen Odo Marquardt, auf den Safranski sich hier bezieht, handelt es sich einmal um jede Form geistiger Vereinnahmung im Sinne einer allgemeingültigen Vorstellung, die man zu übernehmen hat. Religionen sind in dieser Gefahr, Ideologien natürlich sowieso. Das Gegenmodell stellt viele Vorstellungen zur Verfügung, aus denen man auswählen kann. Das ermöglicht zum einen Kritik, zum anderen Austausch.
Bezogen auf die Novelle: "Monomythisch gefangen sind bei Hoffmann die Figuren, die entweder ganz im bürgerlichen Alltag oder ganz im Jenseits davon untergehen." (327)
Sehr nachdenklich machen sollte einen die Übertragung auf den Bereich des Politischen: "Hoffmann wendet sich gegen den Monotheismus der Repression, die nach dem ganzen Menschen greift, wie auch gegen den der Obsession, die durch Politik einen neuen Menschen hervorbringen will." (328). Dagegen helfe nur Gewaltenteilung, auch müsse es mehrere Götter geben, die ihre Kraft auch gegeneinander verbrauchen, als sie komplett für die Herrschaft über die Menschen einzusetzen.
Rausch mit Rückfahrschein - als Basis gelingenden Lebens und Schreibens
Der Schluss des Kapitels gehört der Bedeutung "der künstlichen Paradiese" (328) für den Menschen. Das geht bis zum Rausch, der in Hoffmanns Leben und Arbeiten eine wichtige Rolle spielte. Allerdings hier auch der wichtige Hinweis: "Man muss seinen Phantasien, und seien sie auch noch so euphorisch, entkommen können. darauf kommt es Hoffmann an, und darum ist für ihn der Rausch kein Surrogat, sondern eine legitime, weil lebbare Form des Glücks." (329)
Im Text nachgewiesen wird das an der Szene, in der der "Elementargeist" (für Safrans ein Bezug zum Wein-Geist) Lindthorst seinen Aufenthalt in einer Punschterrine nimmt und - als er fliehen muss - als nächstes einen Pfeifenkopf wählt.
Auch zur Fertigstellung seiner Darstellung der Abenteuer des Anselmus gehört für den Erzähler "angezündeter Arrak" (331), den der Archivarius ihm reicht. Sehr schön der Hinweis Safranskis auf die Selbsterklärung des sich dem Rausch des Getränks und des Schreibens Hingebenden: "Die Vision, in der ich nun den Anselmus leibhaftig auf seinem Rittergute in Atlantis gesehen, verdanke ich wohl den Künsten des Salamanders!" (331)
Am Ende dann - den Kern der Novelle aufnehmend - der schöne Schlusssatz des Interpreten: "Das Paradies ist nebenan." (331)
Die Vorstellung der Interpretation wird fortgesetzt.