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Peter Stamm, Der Besuch


Peter Stamm, "Der Besuch" - eine Kurzgeschichte über familiäre Verlustsituationen und einen möglichen Ausweg

Die Geschichte ist u.a. zu finden in:
Erfahrene Erfindungen. Deutschsprachige Kurzgeschichten seit 1989, ausgewählt und mit Materialien versehen von Sabine Grunow (Editionen für den Literaturunterricht), Ernst Klett Schulbuchverlag,  Leipzig 2004, ISBN: 978-3-12-351010-6, S. 20-24
Anmerkungen zu der Geschichte:
  1. Erläuterung des Inhalts der Kurzgeschichte
    (1-5) Die Geschichte beginnt mit der Veränderung der Wahrnehmung eines Hauses durch die eine Regina, die als Mutter und Witwe jetzt allein darin wohnt, nachdem die Kinder ausgezogen sind.
  2.  (6-18) Es folgt ein Rückblick auf die Zeit nach dem Auszug der Kinder, in der Regina und ihr Mann Gerhard sich zunächst  Über mehr Platz freuen. Der wird aber kaum von den Kindern und der einzigen Enkelin namens Martina für Besuche  genutzt.
  3. Dazu passt dann auch, dass die Kinder die Schlüssel zum Haus mit fadenscheinigen Erklärungen zurückgeben.
  4. Erst im Zusammenhang mit dem Tod  Gerhards schlafen die Kinder dann doch mal wieder eine Nacht im alten Elternhaus.
  5. In dem Zusammenhang wird besonders deutlich, wie wenig die Familie offen miteinander redet. Alle denken eigentlich nur an ihr Leben außerhalb der Familie. Am Ende berichtet der Erzähler davon, dass die Kinder sich in Abwesenheit der Mutter über etwas unterhalten, was ihr offensichtlich unangenehm ist. Sie fühlt sich regelrecht "ausgeliefert" (21,11).
  6. Im fünften Abschnitt (21,12-23) geht es um das Leben der Mutter nach dem Tod ihres Mannes. Sie zieht sich aus Bereichen, die für sie Erinnerung bedeuten, immer mehr zurück und fragt sich sogar, ob es sinnvoll gewesen sei das Haus zu kaufen.
  7. Deutlich wird, dass die Kinder jetzt in eigenen Häusern wohnen, die "praktischer waren und voller Leben" (21,22). Aber die Mutter und Witwe weiß "auch diese Häuser würden sich irgendwann leeren" (21,23). Hier macht der Erzähler ganz deutlich, dass es sich nicht um das spezielle Problem einer bestimmten Familie handelt, sondern um ein grundsätzliches, das alle betrifft im Verlaufe des Lebens.
  8. Im nächsten Abschnitt (21,24-31) geht es um das Bemühen von Regina, wenigstens im Umgang mit den Vögeln im Garten etwas Leben auch in ihr Haus zu bekommen. Sie hofft sogar, "ein Vogel oder eine Fledermaus verirre sich in die Räume oder nistete sich ein" (21,30/31)
  9. Im 7. Abschnitt geht es um die Frage, wie die Familie mit besonderen Festtagen wie dem Geburtstag der Mutter umgeht. Die Kinder kommen zwar, stehen aber "in ihrem alten Zimmer an wie Museumsbesucher, scheu oder unaufmerksam" (21,36/37). Vor allem erfüllen die Kinder den wichtigsten Wunsch der Mutter nicht, mit ihr über den Vater zu sprechen.
  10. Im achten Abschnitt geht es um ein Weihnachten, bei dem Verena zum ersten Mal nicht nach Hause kommt, Weil sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann lieber das Ferienhaus der Schwiegereltern in den Bergen nutzt. Regina versteckt dennoch wie früher die Geschenke "als könnte jemand danach suchen" (22,9). Ansonsten muss sie alleine essen und sich mit der Frage beschäftigen, "wann es zum letzten Mal weiße Weihnachten gegeben hatte" (22,14/15. Am Ende ist sie soweit, dass sie am liebsten im Dunkeln ist, um ihre traurige Umgebung nicht mehr sehen zu müssen.
  11. Im 9. Abschnitt geht es um Reginas 75. Geburtstag, zu dem sie die ganze Familie wieder um sich hat, allerdings in einem Restaurant. Bezeichnend ist, dass fast alle schnell wieder weg wollen. Die Ausnahme bildet die Enkelin Martina, die ihren Freund, einen australischen  Austauschschüler ihres Gymnasiums mitgebracht hat. Beide dürfen bei Regina übernachten, allerdings macht die Mutter des Mädchens ganz deutlich gegenüber Regina: "Du passt auf, dass sie keine Dummheiten macht" (22,30).
  12. Der zehnte Abschnitt bringt dann einen Rückblick auf Reginas Vergangenheit. Als junge Frau hat sie  kurz nach dem Krieg in England einen Mann kennen gelernt, ist dann aber dort nicht geblieben, was dem Laser eher als Fehler vermittelt wird. Denn vorher heißt es ganz deutlich über ihren Aufenthalt in England: "Es war ihr damals gewesen, als käme sie es richtig auf die Welt" (23,1/2).
  13. Der nächste Abschnitt geht näher auf den jungen Australier ein, der Regina auf einem kleinen Computer seine Heimat zeigt und sich offensichtlich dort sehr heimisch fühlt. Regina ist "als sei sie ihm viel näher als ihrer Enkelin". Das wird anschließend begründet damit, dass "er Martina verlassen würde, wie Gerhard sie verlassen hatte" (23,26f).
  14. Erstaunlich ist hier, dass der Tod des Mannes mit der Rückkehr des Jungen aus Australien in seine Heimat auf eine Stufe gestellt wird. Es geht eben nur um den Aspekt des Verlassen-Werdens" und das damit verbundene Leiden. Interessant der Schlussgedanke Reginas: "Diesmal wollte sie auf der Seite der Stärken sein, auf der Seite derer, die gingen." (23,27/28)
  15. Im 12. Abschnitt geht es um die Frage, wie die beiden Jugendlichen übernachten sollen. Martina ist da ganz eindeutig: "Wir können in einem Bett schlafen" (23,32). Und dann sagt sie auch noch, wie sie sich die Lösung für das im Hintergrund lauernde Problem der Sorge ihrer Mutter vorstellt: "Du musst es Mama ja nicht auf die Nase binden." (23,32/33)
  16. Regina zeigt sich hier als Großmutter sehr verständnisvoll, sie freut sich über das wieder gewonnene "Gefühl, das Haus sei voll" (24,9).
  17. Der Rest des Abschnitts gehört ihren Überlegungen, was frühere und noch mögliche Reisen angeht.
  18. Im 13. Abschnitt geht es um Reginas Einstellung zu ihrem Besuch: Sie versetzt sich in die Lage ihrer Enkelin und freut sich praktisch mit, dass sie nicht allein im Bett liegen muss. Was die Sorgen ihrer Tochter angeht, hat sie eine ganz klare Meinung: "Dummheiten, hatte Verena gesagt, und sie solle aufpassen. Aber das waren keine Dummheiten. Alles ging so schnell vorbei." (24,22-24) Hier wird deutlich, wie die Erfahrung des Verlustes ihres Mannes Reginas Blick auf das Leben verändert hat.
  19. Im letzten Abschnitt geht es darum, dass Regina noch einmal aufsteht und intensiv an die beiden Jugendlichen denkt. Sie geht sogar soweit, dass sie sich das vor Handtuch, mit dem sich die beiden wahrscheinlich abgetrocknet haben, an ihr Gesicht drückt. Am Ende denkt sie an Australien und Spanien, wo sie schon mal gewesen ist. Sie ist so realistisch, nicht gleich auch dort hinfahren zu wollen, aber eins ist ihr klar: "eine Reise würde sie noch machen". (24,34)

  20. Kurzgeschichtencharakter:
    Damit ist ein entscheidendes Kriterium für eine Kurzgeschichte erfüllt, in ihr findet eine Veränderung der Hauptperson statt, ausgelöst von dem Besuch des jungen Australiers. Er erweckt anscheinend in der alt und auch ein bisschen bitter gewordenen Frau wieder jugendliche Gefühle, so dass sie zumindest noch mal eine Reise machen möchte und nicht mehr nur an das leere Haus, ihre ihr fremd gewordene Familie und vor allen Dingen ihren toten Mann denkt.
  21. Eine Besonderheit dieser Kurzgeschichte ist, dass sie sich doch über einen größeren Zeitraum erstreckt.  Dies ist aber wichtig, um genau den Alltag deutlich werden zu lassen, der jetzt durch eine Perspektive auf neues Leben durchbrochen wird.
  22. Der Schluss der Kurzgeschichte ist in dieser Frage nicht sehr offen. Als Leser fühlt man sich ganz auf der Seite dieser alten Frau, die sich noch mal etwas Leben gönnen möchte.
  23. Der Einstieg in die Geschichte ist wie immer in Kurzgeschichten sehr direkt. Zuerst wird auf sehr nachdrückliche Art die Veränderung einer Wahrnehmung beschrieben, dann erst folgen die Hintergründe.

  24. Künstlerische Mittel und Anregungen für eine Besprechung der Kurzgeschichte
    Die Vorstellung der Veränderung des Hauses ist auch ein zentrales künstlerisches Mittel. Überhaupt stellt das Haus mit seinen Räumen eine Art Leitmotiv dar, auf das immer wieder zurückgegriffen wird.
  25. Sehr gelungen erscheint auch der Vergleich mit einem Museum, was die Wahrnehmung der Kinder angeht (21,36/37).
  26. Interessant in der Kurzgeschichte ist auch die Kommunikation, zu der es eigentlich so gut wie gar nicht kommt. Offensichtlich haben diese Kinder mit ihrer Mutter kaum etwas gemeinsam zu besprechen, und das diese vor allem interessierende Thema der Erinnerung an ihren Mann und den Vater der Kinder lässt sich in dieser Familie nicht besprechen.
  27. Sehr gelungen erscheint auch die Beschreibung der Gefühle Reginas gegenüber dem australischen Austauschschüler und ihr Wunsch, wenigstens einmal zu denen zu gehören, die nicht verlassen werden. (23,25-28)
  28. Ein weiterer Punkt, über den man sich unterhalten könnte, ist das Verhalten von Martina, die die "Kraft und Zuversicht" zeigt, "die Frauen brauchten" (24,5/6). Hier könnte man Überlegungen anstellen, warum das bei dieser Enkelin so ist und die lebenserfahrene Frau sich erst darauf zubewegen muss.
  29. Nachdenklich macht den Leser sicherlich auch die Stelle, an der Regina kurz überlegt, ob sie damals in England nicht möglicherweise falsch abgebogen ist, indem sie das Land wieder verlassen hat. Hier muss man sicherlich im Auge behalten, dass es sich um eine mögliche positive Alternative handelt, die so nicht eintreten muss.


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