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Bertolt Brecht, "Die unwürdige Greisin"


Bertolt Brecht, "Die unwürdige Greisin" - Anmerkungen zu einer Kurzgeschichte, in der eine Frau sich aus unnötigen Verpflichtungen befreit

  1. In Brechts Erzählung "Die unwürdige Greisin" geht es um eine Frau, Mutter und Großmutter, die sich nach dem Tod ihres Mannes anders verhält, als ihre Umgebung es erwartet. Statt die Kinder für sich sorgen lassen, begnügt sich mit einer kleinen finanziellen Unterstützung und lebt ansonsten in dem inzwischen viel zu großen Haus weiter wie bisher.

  2. Das erbittert besonders einen der Söhne, der als Buchdrucker wenig verdient und eine große Familie zu versorgen und unterzubringen hat. Dieser Sohn hält brieflich Kontakt mit seinen Geschwistern, die inzwischen woanders leben, und berichtet Ihnen regelmäßig über das, was er für einen Skandal hält. Dazu gehört zunächst einmal, dass die Großmutter für Kinobesuche Geld ausgibt, dann im Gegensatz zu früher in einem Gasthof speist und sogar mit einer Kutsche einen Ausflug macht.

  3. Als besonders unangemessen wird auch angesehen, dass die alte Frau keinen Kontakt zu Bekannten hält, dafür aber regelmäßig bei einem Flickschuster Versammlungen gewissermaßen der gesellschaftlichen Unterschicht besucht. Was die Witwe an diesem Mann reizt, ist, dass er nicht nur in der Welt herumgekommen ist, sondern - wie sie es ausdrückt - wirklich etwas gesehen hat.

  4. Nach der Fahrt mit der Kutsche kommt auch noch ein Ausflug in eine Großstadt, wo die Großmutter ein Pferderennen besucht. Dabei ist sie in Begleitung einer jungen Frau, die als Bedienung in dem Gasthof arbeitet. Mit ihr nimmt sie engeren Kontakt auf, hat sogar, wie es heißt, einen Narren an ihr gefressen und kauft ihr zum Beispiel einen Hut, was den Buchdrucker auch wieder sehr empört. Er hätte lieber für seine eigene Familie mehr Unterstützung.  Auch wird ungern gesehen, dass die Witwe mit dem jungen Mädchen in der Küche Karten spielt.

  5. Eine neue Ebene kommt in die Geschichte, als der Vater des Erzählers seine alte Mutter besucht. Er wundert sich zwar, dass er nicht eingeladen wird, im Elternhaus zu übernachten. Dafür hat er allerdings Verständnis für das eigenwillige Leben einer Frau, die genügend in ihrem Leben schon geleistet hat und sich jetzt auch etwas gönnen soll.

  6. Zu dem, was die alte Frau sich gönnt, gehört auch, dass sie sehr ungewöhnliche Dinge macht, wie zum Beispiel nachts in Ruhe durch die Stadt zu gehen oder dem Pfarrer, der sie vor Einsamkeit bewahren möchte, ins Kino einzuladen.

  7. Am Ende erfährt der Leser, dass sie friedlich und im Beisein ihrer Freundin aus der Gaststätte gestorben ist, nicht im Bett, sondern gewissermaßen auch hier noch aufrechtd: in einem Lehnstuhl.

  8. Die insgesamt positive Haltung des an sich zurückhaltenden Erzählers wird am Schluss in einem Kommentar deutlich. Dort stellt er fest, dass seine Großmutter eigentlich zwei Leben geführt hat, einmal eins über 60 Jahre Arbeit und eins über zwei Jahre, in denen sie sich selbst etwas gönnen konnte und nach ihren eigenen Vorstellungen lebte.
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  9. Was den Kurzgeschichtencharakter angeht, so ist er hier nicht so ausgeprägt: Immerhin stellt der Erzähler seine Großmutter am Anfang in einer Art Einleitung doch recht ausführlich vor. Auch der Schluss ist nicht offen, weil es ja sogar einen abschließenden Kommentar gibt.  Aber insgesamt konzentriert sich die Erzählung doch sehr stark auf einen Fall, einen ganz bestimmten Charakterzug eines Menschen.
  10. Brecht selbst sprach von einer Kalendergeschichte und griff damit auf epische Kurztexte zurück, wie man sie von Johann Peter Hebel kennt. Sie tauchten in Kalendern auf und dienten der Unterhaltung, meist auch der Belehrung des einfachen Volkes. Bei Brecht werden sie in den Bereich der anspruchsvollen Literatur gehoben.
  11. Man könnte auch von einer Novelle sprechen, obwohl die Erzählung dafür zu kurz ist und zum Beispiel das Haus als Dingsymbol noch stärker hätte hervorgehoben werden können. Wie gut das hätte gehen können, zeigt die Kurzgeschichte "Der Besuch" von Peter Stamm:
    https://www.schnell-durchblicken2.de/kg-stamm-besuch



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