Kurze Vorstellung von Materialien zu Kleists "Die Marquise von O...."
Rezension zu Bernd Ogan, Lektüreschlüssel, Reclam: Ditzingen 2006/2013/2018
Dieser Lektüreschlüssel, den es auch als E-Book gibt, ist besonders zu empfehlen, weil er im Kapitel 6, das schlicht "Interpretation" überschrieben ist, den eigentlichen Kern der Novelle, nämlich die Vergewaltigungsgeschichte, überzeugend klärt.
In einem ersten Teil ("Die Marquise von O.... als Geschichte einer Emanzipation" wird vor allem die Auflehnung der Marquise gegen den Vater genauer erläutert, durch die sie "zu einer ganz neuen Form von Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit" gelangt.
Interessant sind die Anmerkungen zu Parallelen zur Biografie des Autors. Dieser habe in der Novelle "auch für sich selbst die 'schöne Anstrengung' beschrieben, die einen mit sich selbst bekannt macht und Kraft zur sanften Selbstbehauptung gegen eine ganz feindliche und von aberwitzigen Zufällen beherrschten Welt gibt."
Noch spannender wird es für jeden, der dieses besondere Werk verstehen will, im Unterkapitel "Die Marquise von O.... als Geschichte einer Verdrängung".
Als erster Punkt wird hier die "gewaltige Gefühlserregung" erwähnt, wenn die Marquise "an den letzten" der wichtigen Momente des letzten Jahres zurückdenkt - im Prozess der Prüfung, wie es denn nun zu der nicht mehr zu leugnenden Schwangerschaft gekommen sein könnte.
Ein zweiter Punkt ist die harsche Zurückweisung des Grafen bei ihrer ersten Begegnung nach der Eroberung der Zitadelle. Dessen Überzeugung von der Unschuld der Marquise weist diese mit den Worten zurück: "Ich will nichts wissen." Das wird vom Autor sehr schön erklärt als "Ich will davon nichts hören." Im Einzelnen aufgewiesen wird diese Haltung anhand der Szenen mit dem Arzt und der Hebamme.
Aus all dem zieht Bernd Ogan den Schluss: "Die Marquise weiß, dass sie schwanger ist, sie weiß im Grunde auch, wann es (...) zu der Zeugung des Kindes kam." Wichtig auch der Hinweis, dass sie gegenüber der Hebamme zugibt, "dass sie 'wissentlich empfangen' habe."
Sehr überzeugend wird dann herausgearbeitet, warum die Marquise nicht eigentlich froh ist, dass sich alles aufklärt und ihr Kind einen Vater vorweisen kann. Das wird mit einer "Projektion" erklärt, mit einem Versuch, "das ganze Geschehen allein einer fremden, unbekannten Person zuzuschreiben" - und diese müsse dann auch "in den dunkelsten Farben gezeichnet werden".
In diesem Zusammenhang spielt für Ogan ein zweites Mal der Gedankenstrich eine wichtige Rolle - diesmal heißt es ja sogar, sie sein "auf einen Lasterhaften" gefasst gewesen, "aber auf keinen --- Teufel."
Im weiteren Verlauf verweist Ogan dann auf ein Zitat von Kleist, außerhalb des Textes der Novelle. 1808 macht er sich geradezu in einem Heft der Zeitschrift "Phöbus" lustig über die Vorstellung der Schwängerung einer Ohnmächtigen: "In Ohnmacht1 Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu."
Diese ungeheuerliche Anmerkung zum Verhalten einer Frau, die in der Novelle gleich am Anfang als hochanständig bezeichnet wird und im Verlaufe der Handlung fast schon im klassischen Sinne Schillers zu einer "schönen Seele" heranreift wird anschließend damit erklärt, dass mit dem Grafen ein Mann in ihr Leben trat, "der ihre über Jahre verleugnete Weiblichkeit wieder erweckte, ein Gefühl, dem sie in diesem aufgeheizten Augenblick nur ihre Ohnmacht entgegensetzen konnte."
Bernd Ogan sieht das so: "Lasterhaftigkeit wäre für die Marquise noch zu ertragen gewesen, aber sie braucht in ihrer seelischen Not die Dämonisierung des Grafen zum Teufel, um das Unerträgliche , und dazu gehört eben auch ihr Anteil am Geschehen, von sich abzuspalten und zu verdrängen."
Man wird hier an Goethes Faust erinnert, der ja auch in der berühmten Szene "Trüber Tag. Feld" Mephisto auf das Heftigste beschimpft, um seinen eigenen Anteil an der Misere Gretchens zu verdrängen.
An dieser Stelle verweist Ogan auf den Umgang Kleists mit seinen Heldinnen, die häufig nicht schuldlos seien an ihrem Geschick, "ohne darum im gewöhnlichen Sinne schuldig zu sein". Kleist schone seine Titelfiguren nicht. Ein Literaturwissenschaftler habe in diesem Zusammenhang sogar von "einem ins Ästhetische gewendeten Sadismus" gesprochen. Aber das gelte auch für Kleist selbst, so dass zum Sadismus auch Masochismus komme.
Den Schluss des Interpretationskapitels bilden dann einige Ausführungen zur Kombination von Freud und Leid, die mit der Sexualität verbunden sei. Ein wunderbarer Einfall dann, die sexuelle Selbstbefreiung und Gesundung der Marquise am Ende an dem schönen Zitat aus der Novelle festzumachen: "Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem ersten."
Neben der Frage der Sexualität hebt dieser Lektüreschlüssel zu Recht Kleists These von der "gebrechlichen Einrichtung der Welt" hervor, was einen zentralen Punkt der Intentionalität der Novelle ausmacht. Ergänzt werden hätte das noch durch den Hinweis auf die Weisheit der alten Griechen, nach der der Mensch "aus krummem Holze" geschnitzt sei.
Sehr schön wird so zusammenfassend herausgearbeitet, dass die Marquise einem doppelten Erkenntnisprozess ausgesetzt ist: Sie wird "mit sich selbst bekannt gemacht" und mit der Welt. Auch sehr überzeugend ist die Andeutung, dass sie damit auch selbst in der Position steht zwischen Engel und Teufel, nicht nur der Graf.
Der doppelte Erkenntnisprozess ist für Ogan mit einem doppelten Prozess der Emanzipation verbunden: zum einen von den Familienstrukturen, zum anderen von falschen Vorstellungen von sich selbst.
Insgesamt eine überaus lohnenswerte Investition, wenn man sich diesen Lektüreschlüssel besorgt, den es auch als E-Book gibt, so dass man ihn auch auf dem Smartphone stets zur Verfügung hat - Gelegenheiten, sich stückweise damit zu beschäftigen, gibt es genug - von der Bushaltestelle oder beim Arzt bis zur Warteschlange an der Kasse eines Supermarkts.
Nur kurz sei hier noch auf die - unserer Meinung nach interessantesten - anderen Kapitel verwiesen, die etwas mehr über sich aussagen als das zur "Interpretation:" Erstinformation zum Werk, Inhalt, Personen, Die Struktur - allgemeine Stilmerkmale, Wort- und Sacherläuterungen, Autor und Zeit, Rezeption".
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